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Im Rachen des Alligators

Im Rachen des Alligators

Titel: Im Rachen des Alligators Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Moore
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eine heikle, schwer handhabbare Stimmung – schon ein Seufzer konnte Colleen alles kosten. Dann musste sie ihren roten Mantel wieder ausziehen und sich erneut ihrem Malbuch zuwenden.
    Drei Wochenenden hintereinander ging sie am Sonntagabend von der Sorge übermannt ins Bett, sie werde das Weihnachtsgeschenk für David nicht mehr rechtzeitig beschaffen können. Einmal knallte ihre Mutter den Taschenrechner auf den Esstisch und rief: Ich hab dir doch gesagt, dass ich vor Weihnachten noch mit dir da hingehe. Was habe ich dir gesagt?
    Dass du vor Weihnachten noch mit mir da hingehst.
    Und hab ich dich je hängen lassen? Es war eine Frage, die sie beide einen Moment lang verstummen ließ.
    Später, als sie Colleen ins Bett gebracht hatte, blieb ihre Mutter noch kurz in der Türöffnung stehen, die vom Flur her beleuchtet war. Sie drehte den Türknauf ein paarmal hin und her und schnalzte mit der Zunge. Es war ein altes Haus in der Innenstadt von St. John’s. Früher hatte es als Pension gedient, und als Colleens Eltern eingezogen waren, hatten außen an den Zimmertüren Vorhängeschlösser gehangen. Einige der Türen waren anscheinend eingetreten worden, und die gezackten Löcher waren stümperhaft zugegipst. Im Laufe der Jahre hatte David genügend alte Türen aufgetrieben, um die billigen, modernen komplett zu ersetzen. Alte Türen, die von der Farbe befreit und glattgeschliffen werden mussten und dann mit schweren gläsernen Türknäufen versehen wurden, die aussahen wie Diamanten.
    Ich geh mit dir da hin, und jetzt hör auf zu schmollen, sagte ihre Mutter. Wenn ich eins nicht leiden kann, sind es Quengler. Sie machte die Tür zu und ließ Colleen in der kühlen Dunkelheit allein. Colleen hörte die Absätze ihrer Mutter über den Holzboden und die Küchenfliesen klackern, dann wurde sie vom Schlaf übermannt.
    Durch den Ausdruck du Stück Scheiße , den die Frau im Rollstuhl gebraucht hatte, war Colleens Übelkeit an die Oberfläche getreten. Sie fühlte sich, als wäre sie in tausend schlaffe Scheiben geschnitten worden und würde im nächsten Moment auseinanderfallen. Colleen hatte Erwachsene noch nie so unverblümt miteinander reden hören, hatte noch nie erlebt, dass man ihrer Mutter anders als mit größter Aufmerksamkeit oder der Art von spontaner Bewunderung begegnete, die Glamour oft hervorruft.
    Aber jetzt war ihre Mutter irgendwie mit einem Makel behaftet. Durch diesen einen äußerst unflätigen Ausdruck – du Stück Scheiße – war alles bloßgelegt. Colleen erbrach sich auf ihren Mantel und die neuen Stiefel und die blitzblanken Fliesen des Wal-Mart. Ihre Mutter war sofort auf den Knien, knöpfte den besudelten Mantel auf und faltete ihn mit dem glänzendschwarzen Futter nach außen zu einem festen kleinen Packen zusammen. Sie zog ein Taschentuch hervor und wischte Colleen Mund und Stiefel ab, dann stand sie auf.
    So, Kleines, und jetzt verschwinden wir hier, sagte sie.
    Aber ich will Daddy ein Geschenk kaufen, das hast du mir versprochen.
    Schätzchen, du bist krank. Wir kommen später noch mal wieder.
    Es war eine Gemeinheit. Erst schmiss ihre Mutter fast eine Frau aus dem Rollstuhl, und jetzt gingen sie heim, ohne irgendwas gekauft zu haben.
    Guck dir mal die Schlangen vor den Kassen an, sagte ihre Mutter.
    Colleen hatte einen zerknitterten Wunschzettel in der Tasche – es hatte Stunden gedauert, ihn mit verschiedenfarbigen Buntstiften zu schreiben. David hatte ihr dabei geholfen, seine borstigen, silbergrauen Haare, die sie an der Wange kitzelten, sein weiches Flanellhemd. Wie schwungvoll seine riesige Hand die Buntstifte auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Er war klein und hatte wolfsblaue Augen, und er konnte sie auf den Schoß nehmen und seine Hand auf ihre legen, und so schrieben sie gemeinsam den Wunschzettel, sein Kinn auf ihrem Scheitel. Sie liebte David mit einer Inbrunst, die nichts mit dem gemein hatte, was sie für ihre Mutter empfand: eine weniger euphorische, beständigere, naturgegebene Liebe.
    Tränen glänzten in ihren Augen. Wenn sie weinte, geriet ihre Mutter meist kurz in Wut, und dann bekam Colleen, was sie wollte. Sie weinte nur sehr selten, und nie absichtlich. Sie hasste es genauso sehr wie ihre Mutter, aber jetzt war sie plötzlich erschöpft. Und dann wurde sie eigenartigerweise selbst von Wut erfasst. Es war ein neues, verwirrendes Gefühl.
    Du bist echt ein Stück Scheiße, sagte sie mit ruhiger Stimme.
    Colleen dachte: Diese blöde Kuh. Nichts verletzte sie mehr, als

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