Im Rachen des Alligators
wenn ihre Mutter ihr die kalte Schulter zeigte – weil das völlig unwillkürlich geschah. Es war eine brennende Kälte, wie von Trockeneis, die zu ignorieren enorme Kraft kostete. Colleen fürchtete sich vor der Wut ihrer Mutter und stand zugleich regelrecht in ihrem Bann. Wider Willen hielt es sie im selben Zimmer. Alles wurde verstärkt, wenn ihre Mutter in dieser Stimmung war: Das Quietschen der Scharniere am Küchenschrank war plötzlich ungeheuer bedeutsam. Das leise Kollern, wenn das Wasser im Kessel zu kochen begann, das rasch zu einem heftigen Brodeln anschwoll, bis man den Kessel vom Herd nahm, drückte perfekt aus, wie es zwischen ihnen stand. Es wäre das Beste gewesen, in ein anderes Zimmer zu gehen, aber das konnte Colleen nicht. Sie wollte die volle, ungebremste Wut, aber entweder hielt Beverly ihre Wut sorgsam im Zaum, oder sie war sich ihrer gar nicht bewusst.
Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung, und Colleen musste an das halbflüssige Ei denken, das sie zum Frühstück gegessen hatte, an den Blutfleck im Eigelb, eklig rot und glänzend. Der Richter zog eine der Akten, die er unter dem Arm hatte, hervor, befeuchtete den Zeigefinger und blätterte sie durch, bis er gefunden hatte, was er suchte. Er wandt sich zu Colleen um und starrte sie an.
Bist du die mit den Bulldozern?, wollte er wissen.
Ich bin die mit den Bulldozern, sagte sie. Der Hautlappen unter seinem Kinn wabbelte, wenn er etwas sagte.
Wenn du meine Tochter wärst, würde ich dir mit einer ordentlichen Tracht Prügel die Flausen austreiben, sagte der Richter. Sie kamen im fünften Stock an. Die Tür begann sich zu öffnen, ging wieder ein Stück zu, öffnete sich ganz, und der Richter trat in den Flur und drehte sich auf dem Absatz um.
Ich habe deinen Vater gekannt, Fräulein. Der würde sich im Grab umdrehen, das kann ich dir sagen.
An Weihnachten hatte sich David viel Zeit für das Geschenk genommen, hatte es geschüttelt und daran gehorcht, innegehalten, um seiner Verwirrung Ausdruck zu geben, vorsichtig das Geschenkpapier abgewickelt. Selbst mit ihren sechs Jahren konnte sie erkennen, dass er aufrichtig gerührt war. Er schraubte die Flakons der Reihe nach auf, schnupperte, schraubte sie wieder fest zu und bettete sie in die quietschende Styroporschachtel.
Das hier riecht nach einem Waldspaziergang, sagte er.
Das Rasierwasser landete schließlich in dem Schränkchen unter dem Waschbecken im Gästebadezimmer, hinter den Rohren, dem Comet-Badreiniger und den Putzlappen. Und dort blieb die Schachtel auch nach Davids Tod stehen, das Plastikfenster von einer pelzigen Staubschicht bedeckt.
Beverly
Beverly beobachtet die rasch umspringenden Zahlen auf der Stockwerksanzeige, hinauf und wieder hinunter. Die Tür öffnet sich, schließt sich, und ihre Tochter ist fort. Colleen wird ausgeschimpft und heruntergeputzt werden. Sie wünscht ihrer Tochter ein starkes Rückgrat, auch wenn sie einen unbegreiflichen Fehler begangen hat. Hoffentlich kann sie den Anwälten und Sozialarbeitern und Mr. Duffy mit seinen sabotierten Bulldozern die Stirn bieten. Es hatte sich – Gott sei Dank – herausgestellt, dass Zucker einem Motor nicht ernstlich schaden kann, aber Mr. Duffy hatte sich in die Sorte befriedigender Wut hineingesteigert, die sich nur durch weibliche Schläue und Raffinesse beschwichtigen lässt.
Beverly muss an den Eierbecher in Form eines Hahns denken, der einst ihrer Großmutter gehört hatte. Als Kleinkind hatte Colleen den Eierbecher gegen den Kühlschrank geschmissen, und der Kopf des Hahns war abgebrochen. Beverly war untröstlich gewesen. Eine jähe, schmerzliche, unmäßige Enttäuschung durchfuhr sie, als sie den Porzellankopf über die Fliesen hüpfen sah. Der zerbrochene Eierbecher hatte ihr etwas vor Augen geführt: Als Mutter saß man in der Falle.
In dem Moment, wo Colleen im Entbindungsraum im Spiegel sichtbar geworden war (höher, ich sehe nichts!, hatte sie die Krankenschwester angeschrien), hatte eine tiefe Verzückung von Beverly Besitz ergriffen, gegen die jedes andere Gefühl, das sie in ihrem Leben verspürt hatte oder noch verspüren sollte, abfiel. Es war eine hormonale Liebe, die sie vollkommen überschwemmte und die sich nie ausbalancierte, nie ins Gleichmaß kam.
Doch ihr Leben war durch die Geburt unwiderruflich verändert worden. Ein Großteil ihrer Vitalität und Energie wurde ihr abgegraben. Das Stillen hatte einen Zauber, der sie in Mittagsschläfchen voll erotischer Träume sinken ließ, und
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