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Im Rachen des Alligators

Im Rachen des Alligators

Titel: Im Rachen des Alligators Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Moore
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mit Meditieren hatte sie es eine Weile versucht; ihr Sohn Andrew, der Chirurg war, hatte von Stress gesprochen; doch der enorme Druck in ihrer Brust nahm weiter zu.
    Der Winterdreh war vorbei, jetzt bereiteten sie sich auf den Sommerdreh vor. Dreißig Tage, größtenteils im Freien, bei Schnee und Graupelschauern. Madeleine hatte Landschaft gewollt. Isobel war aus Toronto gekommen, sie war von einer verstörenden Fragilität, einer seltsamen, geradezu unheimlichen Angespanntheit, die Madeleine neu war. Aber vielleicht war sie schon immer so gewesen; vielleicht waren alle großen Schauspielerinnen fragil. Jedenfalls war Isobel stark und professionell gewesen und hatte den Winterdreh letztlich getragen. Die Muster waren genau das, was Madeleine sich erhofft hatte. Die Landschaft war unwirtlich und glitzernd weiß. Was den Kameramann anging, hatte sie absolut richtig gelegen. Kaum zu glauben, dass sie so weit gekommen waren, der Kameramann und sie, nachdem sie so oft nur knapp am Ruin vorbeigeschrammt waren.
    Es geschah in den 1830er Jahren an der Südküste: Zwei junge Männer stahlen einem Priester das Kollar, und dann zogen sie die Küste entlang und nahmen den Leuten die Beichte ab.
    Es war egal, ob die Geschichte wirklich stimmte – eigentlich konnte sie nicht stimmen, aber was für ein Filmstoff. Eine klaustrophobische Gemeinschaft, von Schneestürmen umhüllt wie von Bandagen. Und ein Mädchen, das vom Teufel besessen ist.
    Es ist immer eine Jungfrau im Spiel – diese hat fließendes rotes Haar und trägt ein sehr, sehr weißes Nachthemd. Ein Mädchen im Nachthemd auf dem Kliff, schlafwandelnd oder von Elfen geleitet, und aus der eisigen Dunkelheit das Bimmeln der Kirchenglocken.
    Und da ist Erzbischof Fleming! Er kommt aus St. John’s, um die alte Kirchenglocke zu exorzieren, und trifft auf das Mädchen, ganz windzerwühlter Lockenschopf und im Sturm flatterndes Umschlagtuch. Isobel spielt die Mutter; wie sie die Szene beherrscht, selbst wenn sie keinen Text hat, am Set drängten sich alle um die Monitoren, gebannt von der schlichten Arroganz einer Frau, die ihr Handwerk versteht. Wie Isobel den Erzbischof verunsichert.
    Der Geist von Erzbischof Fleming verfolgt Madeleine, seit sie seine Briefe im Römisch-Katholischen Archiv gelesen hat – diese ausholenden, ineinander übergreifenden Sätze, von rachsüchtigem Ehrgeiz und einem vernichtenden Glauben durchdrungen. Man hatte ihr im Archiv weiße Handschuhe gegeben, mit denen sie die Briefe anfassen durfte. Das Papier war spröde. Ein Altmännergeruch haftete ihm an. Manchmal krampfte sich nachts ihr Herz zusammen, und sie erwachte schweißgebadet und dachte: Das war’s. Das war’s. Und dann sah sie Erzbischof Fleming in einer Ecke ihres Schlafzimmers sitzen und wie einen Hund seine gelben Zähne blecken. Einmal träumte sie, er komme durchs Zimmer zu ihr herüber, das Mondlicht auf den goldenen Stickereien seiner weiten, cremefarbenen Ärmel, und lege ihr seine bleiche, von Leberflecken übersäte Hand auf die nackte Brust, woraufhin der Schmerz nachließ. Der Schmerz verschwand völlig, und sie erwachte ausgeruht und erfrischt. Manchmal waren es einfach nur Verdauungsprobleme.
    Sie hatte sich, als sie einen Arzt brauchte, für einen Mann entschieden, weil sie, Feminismus hin oder her – Ende der sechziger Jahre hatte sie mit zwölf anderen Frauen im Frauenzentrum auf dem Boden gesessen, und alle hatten sich vor Lachen gebogen, während sie mit Spekulum und Handspiegel hantierten – sie hatte sich für einen Mann entschieden, weil sie, so schlimm das war, einem Mann mehr traute als einer Frau, und jetzt sah sie diesen Arzt voller Zweifel und Abscheu an. Es gab für sie nur ihren Film und was sie an Kraft brauchen würde, um ihn fertigzustellen, und sie hatte keinen Nerv, mit einem Arzt zu diskutieren, der zwanzig Jahre jünger war als sie. Sie musste sich einer Gesundheitsprüfung unterziehen, damit sie mit dem Sommerdreh beginnen konnte. Niemand würde den Film versichern, wenn die Regisseurin nicht die Untersuchung bestanden hatte. Die Fernsehsender würden keinen Cent lockermachen.
    Mein Herz hält das durch, sagte sie. Madeleine konnte selbst einen sehr jungen Mann aus der Ruhe bringen, indem sie lediglich eine Augenbraue hochzog.
    Stress ist ein entscheidender Faktor, sagte er. Er rieb sein Stethoskop an der Innenseite seines Oberschenkels, wie um irgendwelche Störgeräusche zu beseitigen. Sein Stuhl hatte Rollen, und er zog sich, die Hand um die

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