Im Rachen des Alligators
guter Junge.
Eine halbe Stunde lang schwieg sie. Er hatte die Uhr im Blick, wollte jetzt raus in die Sonne. Er wollte vor der Arbeit noch ein Sandwich essen. Behutsam, um sie nicht zu wecken, nahm er ihr den Waschlappen von der Stirn.
Und da sagte sie: Niemand in meiner Familie hat studiert, Frank, und ich möchte, dass du der erste bist. Ich möchte, dass du studierst.
Madeleine
Was sie jetzt eigentlich will, ist, einen Nachmittag mit Marty verbringen. In irgendeinem Hotelrestaurant mit fadenscheinigem Perserteppich und livrierten Kellnern, wo der Tee in tropfenden Edelstahlkannen serviert wird und sie alle Zeit der Welt haben, sich über ihren Film zu unterhalten, das ist es, was sie will.
In letzter Zeit hat sie öfter überlegt, ob sie ihn anpumpen soll. Es hat unvorhergesehene Kosten gegeben. Er fehlt ihr ganz gewaltig. Sie ertappt sich dabei, wie sie in Gedanken mit ihm streitet. Er ist im Zimmer, und er ist knurrig. Sie fragt ihn, wie er diese oder jene Einstellung findet: das Mädchen im Bett, ihr rotes Haar auf dem weißen Nachthemd, bleich und besessen sieht sie aus, oder die Brandung, die gegen die Felsen donnert, und die vier Schimmel, die nachts die Straße entlanggaloppieren.
Erzbischof Flemings Cape, das scharlachrote Futter im Licht des Mondes, die knallende Peitsche. So schön und so gefährlich hat Neufundland noch nie ausgesehen, möchte sie ihm gern sagen.
Sie waren frisch verheiratet und hatten sich kundig gemacht, welche europäischen Städte neun Stunden voneinander entfernt lagen, sodass sie im Zug schlafen und Hotelkosten sparen konnten. Flitterwochen in Europa, 1961 war das, wie alt war sie damals gewesen?
Einundzwanzig?
Die vier Sitze im Abteil ließen sich zur Liegefläche ausziehen, und der Zug wiegte sie in den Schlaf. Sie schliefen in ihren Jeansjacken, liebten sich halb bekleidet und hofften, dass keiner hereinplatzen würde.
Manchmal teilten sie das Abteil mit jemandem, einmal war es ein Mädchen aus der Schweiz mit roten Pausbacken und dicken blonden Zöpfen, das Martin versehentlich Heidi nannte, obwohl sie sich als Giselle vorgestellt hatte.
Madeleine presste ihren Hintern an Martins Hüften, sein Schwanz drückte gegen den Reißverschluss seiner Hose und die Naht ihrer Jeans, mehr ging unter den gegebenen Umständen nicht. Gute Nacht, Heidi, sagte Martin über die Schulter.
Sie waren beide einundzwanzig und konnten vom Sex gar nicht genug kriegen. Es war nie genug. Sie schliefen eng umschlungen, sein Arm unter ihrem T-Shirt, zwischen ihren Brüsten, ihr Kinn auf seiner Faust. Er schlief immer länger als sie.
Morgens in aller Frühe ging sie durch den ratternden Zug, um sich einen Kaffee zu holen, und sah die Felder, leuchtend grün mit bläulichen Schatten unter den Wolken, und die Alpen, rauchgrau und kalt.
Kühe, die den Zug mit großem Interesse beäugten und dann mit hängendem Kopf eilig lostrotteten, da sie beschlossen hatten, dem Zug Gesellschaft zu leisten, nur um nach wenigen Schritten wieder reglos stehenzubleiben, weil sie vergessen hatten, warum sie losgelaufen waren.
Sie sah Dörfer, Wälder, Windmühlen vorbeiziehen, kam zum Abteil zurück, und er schlief immer noch.
Sie las im Zauberberg und zog noch einmal los, um einen weiteren Kaffee zu holen, doch er wachte erst kurz vor knapp auf, wenn der Zug ruckte und quietschte und sich zu leeren begann. Die Rucksäcke mussten heruntergehievt werden. Sie zog an seinem Jackenkragen, und seine Augen klappten auf, als hätte er einen elektrischen Schock verabreicht bekommen. Er verzog das Gesicht, schüttelte sich kurz und saß dann blinzelnd da, die Fäuste ins Polster gestemmt, und starrte auf den Boden. Er hatte keine Ahnung, wo er war.
Los, sagte sie. Sie wuchtete die Rucksäcke jetzt selbst herunter, ächzte unter dem Gewicht. Los, los. Sie hatte bereits aus dem vollen geschöpft, hatte in Euphorie geschwelgt und rasende Ungeduld empfunden. Wenn er die Augen öffnete, war der Tag für sie schon halb vorbei.
In Bergdörfern putzten sie sich in schmutzigen Badezimmern mit welligen Spiegeln und nackten Glühbirnen die Zähne. Die Porzellanwaschbecken hatten Rostschlieren, die Abflussrohre führten direkt in die Erde, und ganz in der Nähe blubberte das Wasser dann wieder aus dem Boden. Sie dachte über den Ausdruck mein Mann nach. Sie sprach es laut aus: Das ist Martin, mein Mann . Das ist mein Mann, Martin. Sich selbst als seine Frau zu bezeichnen fand sie furchtbar. Das brachte sie nicht über die
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