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Im Rachen des Alligators

Im Rachen des Alligators

Titel: Im Rachen des Alligators Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Moore
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wollte wissen, was hinten im Laster war. Was er geladen hatte.
    Seit Wochen zog die Landschaft an ihnen vorüber, und es fühlte sich an, als würde unter einem kunstvoll angerichteten Festmahl das Tischtuch weggezogen.
    Für den Rest ihres Lebens sollte sie alle Reisen an dieser Reise messen und alle Lieben an dieser Liebe, und nichts würde dem Vergleich standhalten.
    Keine Liebe würde dem Vergleich je standhalten.
    Der Lastwagenfahrer sagte, sie seien durch die Berge gefahren, und es habe geschneit. Sie sah Schneereste am Rand der von den Scheibenwischern erfassten Fläche und war überrascht, denn zwei Tage zuvor hatten sie noch in der Nähe von Marseille im Meer gebadet. Marty hatte einen rosa Seestern aus den Wellen gefischt und ihr gereicht, und die Arme des Seesterns hatten sich um ihr Handgelenk gekrümmt.

Beverly
    David hatte Anfang der neunziger Jahre im Bereich der Innenstadtentwicklung erhebliche Gewinne gemacht. Er war am Bau zahlreicher Gebäude beteiligt gewesen, deren vorrangiges architektonisches Merkmal die arrogante Missachtung und Verhunzung der bestehenden Skyline war. Diese Bauweise – schnell und hässlich – gab über Monate hinweg Anlass zu verbitterten Leserbriefen an die Telegram und hatte eine Handvoll Neufundländer in die Riege der Superreichen aufsteigen lassen. David war dieser Art von Reichtum sehr nahe gekommen.
    Das heißt, dachte Beverly, wer weiß schon, was wirklich nahe ist. Der Gedanke daran, wie nahe sie verschwenderischem Reichtum gekommen waren, war für Beverly seit Jahren eine metaphysische Übung, die ähnliche Symptome auslöste wie eine beginnende Migräne. Den ganzen Morgen hing ein verschwommener Fleck über ihrer Zeitung. Die veränderte visuelle Wahrnehmung wurde zudem von einer Überempfindlichkeit gegenüber Gerüchen begleitet.
    Sie brachte diesen Zustand vage mit dem Übersinnlichen in Verbindung. Wenn sie spürte, dass eine Migräne im Anzug war, kaufte sie fast jedesmal ein Lotterielos.
    Die zweieinhalb Jahre Reichtum waren die besten Jahre ihres Lebens gewesen. Sie arbeitete nur noch halbtags, hatte Zeit für Aquarellkurse und konnte dreimal die Woche Tennis spielen gehen. Schon im Mai, wenn der Schnee noch von den Ästen rutschte und die Eiszapfen am Dachgesims tropften, nahm sie auf der Veranda, die sich um das ganze Haus zog, Sonnenbäder. Sie wollte nie wieder ganztags arbeiten müssen.
    David war in diesen Jahren des Wohlstands dreimal mit der Familie in die Karibik geflogen.
    Colleen würde nie die Zuckerplantage auf Barbados vergessen, die sie als Siebenjährige besichtigt hatte; eine Plantagenherrin hatte mehrere Ehemänner hintereinander durch Voodoozauber umgebracht.
    Colleen hatte wilde Affen aus der Hand gefüttert und später erfahren, dass die Affen einen Rottweiler zerfleischt hatten. Sie weiß noch, dass sie ewig auf dem von trockenen Palmwedeln bedeckten Boden kauerte, einem Kreuz und Quer aus Licht- und Schattenklingen. Die Affen blinzelten hastig, flitzten los, blieben abrupt stehen und flohen wieder in eine sichere Entfernung. Mit jedem mutigen, listigen Ansturm auf die Banane nahm die Zahl der Affen zu, bis es um die dreißig waren.
    Sie kreischten und bleckten die Zähne, und ein kleiner Affe riss Colleen schließlich die ganze Banane aus der Hand. Dann kam der Gärtner heraus, er schwenkte eine Machete und sagte ihr, sie solle langsam zurücktreten.
    Genauso schnell wie David reich geworden war, verlor er alles wieder. Er kehrte auf seine alte Arbeitsstelle bei einer Computerfirma zurück, die Software für bildgebende Verfahren in Krankenhäusern entwickelte: dreidimensionale Grafiken, die es Chirurgen ermöglichten, eine drei Provinzen weiter durchgeführte Laseroperation zu verfolgen und mittendrin zum Telefon zu greifen, um den Jungs, die gerade an irgendeinem Tumor herumschnippelten, zu sagen, dass sie da etwas übersehen hatten.
    Zwei Jahre zuvor hatte er mit großer Geste seine Kündigung eingereicht.
    Ich krieg nur einen fetten Arsch von all dem Essen im Flugzeug, hatte er gesagt. Er war eigentlich Ingenieur und liebte das metallisch-dumpfe Geräusch, das entstand, wenn ein Stahlträger mit dem Kran auf einen anderen herabgesenkt wurde, er mochte den Geruch der Arbeit im Freien. Er hasste die schäbigen Krankenhäuser, die er hatte besuchen müssen, und deren ernstes Personal. Er wollte mit Männern zusammenarbeiten, die tätowierte Unterarme hatten und einen Vorschlaghammer schwingen konnten, ohne sich einen Wirbel

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