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Im Rachen des Alligators

Im Rachen des Alligators

Titel: Im Rachen des Alligators Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Moore
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Kotflügel des anderen. Frank verdrückte sich in den Shoppers Drug Mart, lief quer durch den klimatisierten Laden und trat durch die Hintertür wieder in die Hitze hinaus. Auf seinem Unterarm saß eine Raupe, und er beschimpfte sie leise.
    Frank sorgte dafür, dass jede Woche frische Blumen im Zimmer seiner Mutter standen. Er zog den Vorhang um ihr Bett immer zu, damit sie nicht von den anderen Patientinnen gestört wurde.
    Am Tag vor ihrem Tod öffnete Franks Mutter die Augen und sagte: Frank, ich möchte, dass du studierst.
    Sie begann um Luft zu ringen. Sie hielt Franks Arm, deshalb konnte er nicht auf die Klingel drücken und die Krankenschwester rufen. Er sah die Klingel auf ihrem Nachttisch, aber er kam nicht dran.
    Der Griff seiner Mutter war so fest, dass am Handgelenk ihres dünnen Arms die Sehnen hervortraten. Er wollte nicht, dass sie erstickte. Sie musste würdevoll sterben. Sonst würde er das nicht überstehen.
    Er wollte nicht dabei sein. Er konnte sie nicht verabschieden. Ihr Körper war jetzt ganz starr, und sie war dunkelrot angelaufen. Sie rang weiter um Luft, ihr rotes Gesicht wurde immer dunkler, der Farbton veränderte sich, ihre Augen tränten. Das war’s. Seine Mutter würde ersticken, während sie ihn am Arm festhielt, als wollte sie ihn mit sich ziehen. Wenn sie so starb, würde das auch sein Ende sein.
    Er kam nicht an die Klingel, aber die Frau in dem Bett am Fenster hatte schon nach der Krankenschwester geläutet. Die Frau war vor langer Zeit aus Großbritannien nach Neufundland gekommen, sie war kahl und bekam nie Besuch, und jetzt hob sie die Faust und rief: Halt die Ohren steif, junger Mann!
    Dann hörte das Röcheln plötzlich auf. Seine Mutter ließ seinen Arm los, auf dem nun ihre weißen Fingerabdrücke zu sehen waren. Er spürte, wie ihm ein Schweißtropfen die Schläfe hinunterrann.
    Frank nahm das Glas Wasser vom Tablett und setzte ihr den Knickstrohhalm an die Lippen, und sie sog das Wasser auf halbe Höhe des Strohhalms, hatte jedoch nicht die Kraft, es bis in den Mund zu ziehen. Sie hatte ihm wehgetan am Arm, richtig wehgetan. Doch jetzt konnte sie nicht mal durch einen Strohhalm trinken. Ihre Atemnot hatte sie völlig zerrüttet.
    Sie versuchte es noch einmal und bekam das Wasser wieder nicht bis ganz nach oben. Frank sah sich selbst zuschauen, sah, mit welch verzweifelter Aufmerksamkeit er den Strohhalm beobachtete, mit welchem Ernst er das Steigen und Fallen der Flüssigkeit darin verfolgte, die nie ganz hinaufgelangte zu den sich anspannenden und wieder erschlaffenden Lippen.
    Frank kicherte. Es begann als ein Beben, das ihn erschaudern ließ, und er versuchte es zu unterdrücken, aber er kicherte. Und dann prustete er los. Seine Mutter war verblüfft, doch es war, als sähe sie das Gleiche wie er, nämlich wie sehr sie sich beide auf den Strohhalm konzentrierten, und eine Art Krampf erfasste ihr Gesicht, die Muskeln verzerrten sich ganz eigenartig, ihre Schultern hoben und senkten sich, und an einem vertrauten Ausdruck um die Augen erkannte er, dass sie ebenfalls lachte.
    Er war geschockt und ungeheuer erleichtert. Seine fast schon tote Mutter lachte mit ihm.
    Es schüttelte sie beide vor lautlosem Lachen.
    Er bekam kaum mehr Luft, und sie auch nicht, so heftig lachten sie. Er sah, wie ihr Tränen in die Augen traten und über die Wangen strömten, und da kamen auch ihm die Tränen. Sein Magen krampfte sich zusammen. Mit einer kaum merklichen Handbewegung bat sie ihn, er möge aufhören, doch er konnte nicht, und das erschien ihnen beiden noch komischer. Er japste nach Luft, und sie legte den Finger auf die Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen.
    Er beugte sich vor und flüsterte ihr zu: Halt die Ohren steif. Da mussten sie noch mehr lachen.
    Genauso abrupt, wie sie begonnen hatte, hörte sie auch wieder auf, er hielt ihr erneut den Strohhalm hin, und diesmal klappte es mit der Konzentration. Es gelang ihr, das Wasser bis in den Mund zu saugen, drei rasche Züge. Er besorgte einen Waschlappen, ließ auf der Toilette das Wasser laufen, bis es richtig kalt war, hielt den Waschlappen darunter und faltete ihn dann zusammen.
    Er dachte an ihre gemeinsame Wohnung, die er aufgeben würde, aber erst nach ihrem Tod.
    Sie wussten beide, dass er sich die Wohnung nicht leisten konnte, aber sie hatten nie darüber gesprochen. Er legte ihr den nassen Waschlappen auf die Stirn und sagte, sie solle sich ein bisschen ausruhen. Sie schloss die Augen und sagte: Das tut gut. Bist ein

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