Im Rachen des Alligators
Telefonnummer.
Russell sagte, sie müsse ins Krankenhaus. Er befürchtete ein Schleudertrauma, eine Gehirnerschütterung, weiß Gott was für Verletzungen, und dann die Versicherung, und wer denn ihr Vormund sei?
Sie hatte bereits ein Auto angehalten, und mehrere andere waren an den Rand gefahren, er redete gerade mit einem Mann, der im Wald auf der Jagd gewesen war, sie verabschiedete sich, und er sagte: He, Augenblick mal. Doch sie winkte und stieg ein. Aber natürlich hatte er dann in St. John’s Nachforschungen angestellt, und man hatte sie erwischt.
Madeleine
Sie hat das Geld von ihrem Produzentenhonorar abgezweigt, was bedeutet, dass sie selbst nichts verdienen wird, praktisch nichts. Dafür gibt es jetzt Oberlichter am Set. Guy ist glücklich. Sie lasse sich nicht vor dem versammelten Team anschreien, hatte sie ihn wie ein Kind zurechtgewiesen. Hinter ihrer geschlossenen Bürotür hatte sie in scharfem Ton mit ihm gesprochen.
Das verbitte ich mir, hatte sie gesagt. Dann genehmigte sie ihm die verdammten Oberlichter, und sein Gesicht wurde ganz rosig. Er küsste sie auf beide Wangen. Er verließ im Sturmschritt ihr Büro, doch kaum hatte er die Tür hinter sich zugemacht, ging diese wieder auf, er kam hereingeeilt, beugte sich über ihren Schreibtisch, wobei er eine leere Tasse zu Boden stieß, und gab ihr einen Kuss auf den Mund, und dann ging er und knallte die Tür so schwungvoll zu, dass die Milchglasscheibe klapperte. Madeleine war erschöpft, schweißgebadet, und dachte sich, dass sie ohnehin keine Gelegenheit mehr haben würde, ihr Honorar auszugeben.
Vergiss das Honorar, dachte sie. Seit einiger Zeit hatte sie Albträume wegen der Sequenz mit den Schimmeln. Jede Nacht träumte sie vom Schneideraum, träumte, dass die Hengste rückwärts galoppierten, ganz verschwanden. Dass der Film sich selbst verzehrte, bis nichts mehr übrig war.
Um wie viel einfacher wäre alles gewesen, wenn sie keinen Beruf gehabt hätte. Sie stellt es sich vor – wie die Frauen in Romanen aus dem achtzehnten Jahrhundert im Salon sitzen und sich ihrer Stickerei zuwenden. Die Heldin, von ihrem Liebsten gekränkt, errötet heftig und wendet sich ihrem Nähzeug zu. Sie für ihr Teil hatte sich dem Film zugewendet, und vorher war sie vollauf mit den Kindern beschäftigt gewesen.
Sie denkt an die erstickende, süchtig machende Süße des Mutterdaseins. Wie nobel und verwegen: Zu denken, sie könnte für zwei hilflose Wesen sorgen. Wie vereinnahmend war das alles gewesen, und so schnell vorbei, obwohl es ihr endlos erschienen war: Allein die Fahrerei hatte für ein ganzes Leben gereicht. Sie hatte bei jedem Wetter fahren müssen, hierhin und dorthin, zu Kindergeburtstagen, zu den Pfadfindern, zum Schwimmen im Bowring Park, während Marty im Büro war.
Sie muss an den Karatelehrer denken, hat ihn klar vor Augen; die Bartstoppeln des Kameramanns haben sie am Kinn gescheuert. Die Bewegungen des Karatelehrers waren fließend und mühelos, seine Füße waren kräftig und ausgesprochen erotisch, auch der lose Karateanzug war erotisch, ja selbst das Neonlicht war erotisch, und das leise Quietschen seines nackten Fußes auf den Fliesen war sehr, sehr erotisch. Sie war erschöpft von der ganzen Fahrerei für die Kinder.
Ich hätte mit geschlossenen Augen fahren können, denkt sie.
Vor dreißig Jahren, als die Kinder noch klein waren, zog sie das Drehbuch, an dem sie gerade arbeitete, für die Wartezeit vor den roten Ampeln aus der Tasche. Sie hatte einen Bleistift hinterm Ohr stecken, blätterte um. Hinter ihr begannen die Leute zu hupen, weil es inzwischen grün geworden war. Die anderen Autofahrer waren ihr schnurzegal. Sie würden eben warten müssen.
Sie fuhr Melissa ins Ballett und Andrew zum Karate. Karate war neu, ein Mann vom Festland war nach St. John’s gekommen und hatte eine Karateschule aufgemacht. In den Karatelehrer war sie eindeutig verknallt gewesen – wenn sein Fuß auf den Fliesen quietschte, summte ihr das Blut in den Adern.
Das war, bevor ihre Karriere in Schwung kam.
Bevor sie Marty verließ. Die Scheidung war hässlich, denn er lehnte alles ab, wollte nichts für sich haben, sodass sie schließlich in Tränen ausbrach. Behalt doch wenigstens das Ledersofa, ein Schlachtschiff von einem Sofa, das seit Ewigkeiten in seiner Familie war, aber er erklärte vor dem Richter, seine Kinder brauchten ordentliche Möbel, und der ganze Gerichtssaal konnte sehen, dass es ihr nicht gelungen war, das Ganze
Weitere Kostenlose Bücher