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Im Rachen des Alligators

Im Rachen des Alligators

Titel: Im Rachen des Alligators Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Moore
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welche Schuhe sie getragen hatte.
    Was ist passiert?, fragte sie.
    Wir haben einen Elch angefahren.
    Was für ein Telefonat, sagte sie.
    Oder sonst irgendwas.
    Sie haben am Steuer geschlafen.
    Ich hätte mich schon längst von meiner Freundin trennen sollen.
    Jetzt ist es zu spät.
    Mich hat es richtig durchzuckt plötzlich, sagte er, das war’s. Sie versuchte sich an die Schuhe zu erinnern. Sie sah noch vor sich, wie sie sich angezogen und gekämmt hatte, sie hatte sich Schildpattkämme ins Haar gesteckt, auch ihre Strumpfhose sah sie noch vor sich – sie trug normalerweise keine Strumpfhosen, aber für die Beerdigung hatte sie sich eine gekauft.
    Im Handumdrehen liegt man im Grab, sagte Russell. Das Wasser im Innern des Wagens schien zu steigen. Colleen kam der Gedanke, dass der Transporter womöglich auf einer Erhebung lag – was, wenn die jetzt unter ihnen nachgab und sie auf den Grund eines tiefen Sees sanken und man nie wieder von ihnen hörte? Braune hochhackige Wildlederschuhe. Sie hatte die Schuhe angehabt, die Jennifer Galway zu ihrem Abschlussball getragen hatte. Jennifer Galway hatte auf dem Parkplatz des Beerdigungsinstituts den Arm um sie gelegt und sie leicht gekniffen. Sie hatte Colleen in den Arm gekniffen, damit sie nicht weinte.
    Mein Stiefvater ist gestorben, sagte sie.
    Und du trampst im Dunkeln, sagte er.
    Draußen im Dunkeln, einsam und allein, sagte sie.
    Was würde dein Stiefvater davon halten?
    Das werden wir wohl nie erfahren.
    Weil wir fast selber gestorben wären, sagte er.
    Vielleicht sind wir ja tot. Er drehte sich um und schaute sie an, ihr Kinn war blutverschmiert, das sah er im Schein der Armaturenbeleuchtung.
    Ich will keine Kinder, sagte er. Colleen musste plötzlich an ihre Mutter denken.
    Oje, sagte sie. Wie wütend sie sein würde, wenn sie herausfand, dass Colleen fast gestorben wäre. Ihre Mutter würde es gefühlsmäßig nicht verkraften, wenn noch einmal irgendwer, den sie kannte, dem Tod auch nur ansatzweise nahekam.
    Ich habe mehrere Nichten, sagte Russell.
    Ich heiße Colleen, sagte sie. Das Wasser stieg jetzt eindeutig nicht mehr. Sie wollte aus dem Transporter raus. Sie hätte ihren Namen nicht sagen sollen.
    Mehrere Nichten reichen, Colleen.
    Aber Ihre Freundin, sagte sie. Sie merkte, dass Russell noch nicht bereit war, den Transporter zu verlassen. Wenn es nach ihm ginge, könnten sie ewig so sitzenbleiben.
    Meine Freundin ist am Limit, sagte er.
    Sind meine Zähne eingeschlagen?
    Du bist blutig.
    Das kommt von der Nase, aber was ist mit meinen Zähnen?
    Lächel mich mal an. Gott, bist du hübsch.
    Ich bin voller Blut.
    Aber du – ja, was? Du führst nichts Gutes im Schilde. Ich geb dir ein Papiertaschentuch. Die Schachtel Kleenex, die auf dem Armaturenbrett gestanden hatte, drehte sich jetzt unter ihnen im Wasser, und eines der Tücher ragte nach oben wie ein Segel. Russell langte nach unten, zog es heraus und reichte es Colleen.
    Geschenk des Hauses. Wir haben nur ein Leben, Colleen. Es gibt nicht das Leben, das wir leben, und das Leben, das wir hätten leben können. Verstehst du, was ich meine?
    Das ist alles sehr erhellend, sagte Colleen. Sie sind ein heller Kopf.
    Tut mir leid, das mit deinem Stiefvater.
    Dann hörten sie ein eigenartiges, hohes Gurgeln, als läge ein halb zerquetschter Vogel unter dem Autodach. Gequetscht und untergetaucht klang es, und sie brauchten einen Moment, um zu erkennen, dass das schwache grüne Licht unter ihnen im Wasser das Handy war. Sie mussten beide kichern. Es klingelte immer noch.
    Colleen stemmte den Fuß gegen das Armaturenbrett, löste den Sicherheitsgurt und wand sich unter dem Airbag hervor, sodass sie in dem rund dreißig Zentimeter hohen Wasser auf dem Dach des Transporters zu knien kam.
    Es gelang ihr nicht, die Beifahrertür zu öffnen, aber Russel hatte auf seiner Seite die Windschutzscheibe eingetreten, und dort kroch sie hinaus, und dann stand sie auf wackeligen Beinen da und hielt sich ein Taschentuch an die blutende Nase. Sie neigte den Kopf, damit das Bluten aufhörte, und die Sterne leuchteten am Himmel. Am Waldrand sah sie eine dunkle Silhouette, und es dauerte lange, bis sie wirklich glaubte, dass es ein Elch war. Sie glaubte es erst, als sie sah, wie er sich umdrehte und in den Wald verschwand, und sie die Zweige rascheln hörte. Plötzlich fiel ihr der Rucksack ein. Sie hatte ihren Rucksack verloren, mit allem, was drin war. Dem restlichen Zucker und ihrem Tagebuch. Etwas Geld, ihrem Namen, ihrer

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