Im Rachen des Alligators
Leute wandten die Köpfe und verstummten, und der Stadtführer begann mit seinem Vortrag. Er wusste seine Stimme einzusetzen, der Bursche, eine sonore Stimme.
Es war die Gruseltour, zu den Schauplätzen der diversen grässlichen Morde, die in St. John’s über die Jahrhunderte begangen worden waren, Touristen vom Kreuzfahrtschiff, fünf Dollar verlangte der Mann, und Frank wünschte, er wäre selbst auf diese Idee gekommen. Er verstand nie, was der Führer genau sagte.
Irgendjemand war vor hundert Jahren im Keller eines dieser Häuser vergraben worden, nachdem er einen langsamen Gifttod gestorben und in Stücke gehackt worden war.
Den ganzen Sommer über ging jeden Abend um die gleiche Zeit ein Murmeln durch die Reihen. Ehrfurcht, ein wohliger Schauer, und die Spannerraupen hingen an ihren durchsichtigen Fäden und sorgten dafür, dass die Blätter sich noch fester zusammenrollten.
Madeleine
Sie hatte sich mit Marty zum Mittagessen verabredet, denn sie wollte ihm das Geld, das sie für den Film noch brauchte, aus den Rippen leiern. Sie würde betteln, sie würde weinen. Sie würde darauf abheben, was sie einander einmal bedeutet hatten, und ihn zwingen, alles herauszurücken, was er hatte. Dass er bald Vater werden würde, war ihr egal. Das war sein Problem.
Er war immer wählerisch gewesen, und das gefiel ihr und störte sie zugleich. Die ganzen dreißig Jahre nach ihrer Trennung hatte er sie weiterhin geliebt, eine Folge zunehmend jüngerer Freundinnen an seiner Seite. Er war mit jedem Jahr attraktiver geworden.
Seine Freundinnen waren alle hochintelligent, ernst und drall, die vorletzte war eine bedeutende Architektin in Toronto geworden. Es erwischte die Frauen immer heftig, aber wiederum nicht so heftig, dass es ihre Karriere gefährdete oder sie schwanger wurden. Außer dieser letzten, Gerry-Ann, die Madeleine noch nicht kannte.
Sie betrachtete ihr damaliges Bedürfnis, aus der Ehe auszubrechen, abwechselnd als Verirrung und als Anwandlung von Vergesslichkeit. Dieses Bedürfnis, auszubrechen, suchte sie heim, sie hatte es nicht in der Hand, wünschte es mit aller Macht fort. Sie hatten von Anfang an nicht zusammengepasst.
Das stimmt nicht. Sie weiß sehr wohl noch, wie hart sie arbeiteten und einander antrieben, wie sie mitten in der Nacht aufstanden und sich um die Babys kümmerten, wie sie schnellen Sex in der Waschküche hatten, während die Kinder Zeichentrickfilme anschauten und auf dem Herd die Spaghetti kochten, seine Hand auf ihrem Mund.
Oder Sex im Wohnzimmer mit Wein und Dope, während das Scheinwerferlicht vorbeifahrender Autos über die Wände wanderte, das riesige Ledersofa war ihnen dabei umgekippt, und eine Strebe in der Rückenlehne war zerbrochen.
Es war eine dauerhafte Liebe, die ihr gesamtes Erwachsenenleben angehalten hatte.
Sie hätte ihn nie heiraten sollen.
Was gab letztlich den Ausschlag? Die Zeit verrann, doch hie und da schien sie ins Nichts zu versickern, denn Madeleine stellte fest, dass ihr ganze Zeitabschnitte fehlten. Sie fuhr die Water Street entlang, der Himmel über dem Signal Hill war zerfranst, vom Meer raste die Dunkelheit heran, und ihr wurde klar, dass es November war. Das war Novemberwetter. Sie schaute sich um, der Asphalt wirkte glasig, die Welt verzerrte sich und wurde mit jeder Bewegung der Scheibenwischer wieder gerade und blitzblank.
Sie hatte einen Zahnarzttermin gehabt und ihn vergessen. Sie hatte die Kinder vor der Schule warten lassen. Sie waren nass bis auf die Knochen. Sie hatte den Ofen angelassen. Sie steckte ihren Schlüssel in die Tasche mit dem Loch im Futter, und dann fand sie ihn nicht mehr.
Projekte taten sich auf. Sie drehte Industriefilme über Sicherheitsgurte in Autos, Fischverarbeitung, Prothesen.
Man stellte ihnen die Heizung ab, weil sie vergessen hatte, die Rechnung zu bezahlen. Sie filmte einen Dreifachbypass, und der Chirurg zwinkerte ihr zu und klapperte mit der winzigen Schere wie mit Kastagnetten, eins, zwei, drei, ehe er sie in der klaffenden Brust versenkte.
Sie filmte einen Dummy, der in einem blauen Sedan gegen eine Wand knallte, der Airbag blies sich auf, und aus der Motorhaube schlugen Flammen.
Du bist überhaupt nicht richtig da, hatte Marty gesagt. Er war nicht leicht aus der Ruhe zu bringen und behielt seine Meinung gemeinhin für sich, aber sie merkte, dass sie ihn verletzt hatte. Sie ging mit den Kindern in den Park, spürte eine Beule in ihrer Jacke, fand ihren Schlüsselbund. Sie hatte ihren Schlüssel
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