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Im Rachen des Alligators

Im Rachen des Alligators

Titel: Im Rachen des Alligators Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Moore
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den Kopf: Wo war eigentlich die Flasche Champagner, die in ihrer Hochzeitsnacht im Hotelzimmer gestanden hatte?
    Martys Schwestern hatten ihnen eine Flasche Champagner geschenkt. Sie hatten ihn für eine besondere Gelegenheit aufbewahrt. Eigentlich, dachte sie, sollten sie ihn heute Abend trinken. Warum auf eine besondere Gelegenheit warten? Wie frivol, wie erlösend, ohne jeden Grund Champagner zu trinken. Sie erinnerte sich daran, die Flasche unter dem Spülbecken verstaut zu haben, aber unter dem Spülbecken stand die Flasche nicht, da war sie sich sicher. Sie spürte, wie das Auto ins Rutschen geriet, und trat voll auf die Bremse, der Wagen schlingerte, und sie dachte an den Champagner, der im Dunkel des Schränkchens unter den Rohren lag. Ein Auto kommt frontal auf sie zu, sie hat ihren kleinen Sohn auf der Rückbank, und sie schließt die Augen. Sie fährt mit geschlossenen Augen, und sie schliddern dem entgegenkommenden Wagen aus dem Weg.
    Hände hoch, um die Nase zu schützen, hatte der Karatelehrer zu Andrew gesagt. Er hatte Disziplin und uralte Weisheit, Glück und Selbstachtung verheißen. Sie hatte ihr Drehbuch auf dem Beifahrersitz liegen und einen Bleistift hinterm Ohr. Eine rote Ampel, und schon gellten die Hupen. Hatten sie ihn schon getrunken? Sie hatten ihn aufgehoben, da ist sie sich ganz sicher.
    Sie waren auf der Brookfield Road, mitten in der Pampa, als das Auto stehenblieb. Warum es stehenblieb, weiß sie nicht mehr. Sie drehte den Zündschlüssel im Schloss, versuchte es immer wieder. Sie hieb aufs Lenkrad und tat sich an der Hand weh. Von hinten kamen Autos herangerast, scherten aus, schossen vorbei.
    Sie schaltete die Warnblinkanlage ein. Die Straße vor ihnen war leer. Sie und ihr Sohn, von aller Welt verlassen, auf dem besten Weg zu erfrieren. Dann kam ein Auto auf sie zu, seine hüpfenden Scheinwerfer zerteilten den Schneeregen, und es fiel ihr wieder ein.
    Der Champagner war zurückgerufen worden, in Flaschen dieses Jahrgangs waren Glassplitter gefunden worden. Jemand hatte Glassplitter darin entdeckt. Die Flasche stand nicht unter dem Spülbecken. Sie hatte nie dort gestanden. Was sie in Erinnerung hatte, war eine Flasche Bleichmittel. Sie hatte die Warnblinkanlage noch nie benutzt und wusste nicht, wo der Schalter war. Aber sie fand ihn, setzte die Warnblinkanlage in Gang, und der Motor sprang nicht an. Sie konnte es nicht fassen: ihr war der Wagen verreckt.

Frank
    Frank hörte die Russen oben, hörte Geigenmusik. Sie klang anders als neufundländische Musik. Stuhlbeine scharrten über seine Zimmerdecke, und die beiden stampften mit den Füßen auf, als wäre es ihnen ernst mit der Musik, sehr, sehr ernst. Die Geigen steigerten sich, wurden schwülstig, jammerten, geschmeidig wie Öl. Die Russen waren betrunken, stritten lautstark. Die Geigen legten zu, wild und kunstvoll, eine sinnliche und melodische Musik. Sie war genau wie neufundländische Musik oder war zu neufundländischer Musik geworden, oder alle Musik glich sich, überall, und dies war nur ein weiterer Beleg dafür.
    Es war den ganzen Tag heiß gewesen, und auch jetzt war es noch heiß. Frank machte das Fenster auf, legte die Füße auf einen Stuhl und trank einen Kaffee. Er trank jeden Abend einen Kaffee, bevor er zu seinem Hotdog-Stand ging.
    Das Fensterbrett war voller Spannerraupen, und Frank holte einen Lappen, zerquetschte sie alle und steckte den Lappen in eine Plastiktüte, die er zuknotete. Auf den Dächern und Motorhauben der Autos, die in der Straße parkten, lagen Hunderte von Raupen.
    Im Radio hieß es: Spritzen Sie. Spritzen Sie nicht. Die Bäume sind hinüber, sagte ein Wissenschaftler. Die Raupen haben gesiegt. Im Radio hieß es, Ende August würden die Raupen verschwinden.
    In den Talkshows riefen Leute an und klagten über den Gestank. Ein Geruch wie Pisse, der stärker wurde, wenn die Sonne schien. Picknicktische, die Bananensättel von Kinderfahrrädern, Plastikschwimmbecken, alles, was draußen stand, war von Raupenscheiße bedeckt. Bring den Schmodder nicht ins Haus. Woher kamen sie? Sie waren mit dem Wind gekommen oder in jemandes Koffer. Sie waren mit einer Holzlieferung gekommen, in einer Kiste Äpfel. Jemand hatte sie erträumt.
    Eine Gruppe von rund zweihundert Leuten kam den Long’s Hill herauf und sammelte sich gegenüber von Franks Wohnung. Der Mann, der sie anführte, trug einen Piratenhut und ein Cape. Er hatte eine Fackel in der Hand und deutete ungefähr in Richtung von Franks Fenster. Die

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