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Im Rachen des Alligators

Im Rachen des Alligators

Titel: Im Rachen des Alligators Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Moore
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eigentlich irgendeine Vorstellung, wie gefährlich Trampen ist? Ich hab mir noch gesagt, halt ihr keine Moralpredigt.
    Das Handy klingelte, und sie hörten sich das Klingeln lange an, und irgendwann verstummte es. Als sie sicher waren, dass es nicht weiterklingeln würde, fragte der Mann: Wie war noch mal dein Name?
    Dann begann das Handy erneut zu klingeln, und er meldete sich.
    Ich hab jemanden bei mir, Sandra, sagte er. Eine Tramperin. Ein junges Mädchen. Sie ist getrampt. Ja, ein junges Mädchen. Ich hab ihr gesagt, dass das riskant ist. Mädchen in deinem Alter, hab ich gesagt. Das hab ich ihr alles gesagt, Sandra. Er schaute Colleen an und verdehte die Augen. Aus dem Handy ertönte jetzt wieder das Schluchzen. Colleen hörte es ganz deutlich, ein hauchiges, rotzgetränktes Weinen, das sich mit einem hohen Wimmern abwechselte, ein sehr eigenes, fein abgestimmtes, abruptes Einziehen und Ausstoßen des Atems.
    Jetzt sag mir mal eins, sagte er.
    Die Frau begann lautstark zu heulen.
    Sandra, sagte er, Sandra. Er beendete das Gespräch wieder. Und dann, in der Stille, die sich nach dem Schluchzen aus dem Handy entfaltete, wurde die Windschutzscheibe zur Faust. Eine gläserne Faust voll silberner Runzeln und Risse, und diese Faust schlug Colleen voll ins Gesicht. Der Transporter war auf die Seite gekippt, die Beifahrertür schrammte über den Asphalt und zog eine Spur orangener Funken nach sich, ihre Wange am Fenster, und im nächsten Moment landete der Transporter auf dem Dach und rutschte die Böschung hinunter, und ein Vorhang aus Unkraut und Schotter sauste über die geborstene Windschutzscheibe.
    Kopfüber und mit der Schnauze in einem flachen Teich kamen sie zum Halten, unter dem Dach gluckerte schwarzes, nach Schlamm riechendes Wasser.
    Colleen hing in ihrem Sicherheitsgurt, der Airbag war unter ihrem Kinn verkeilt, und Staub schwebte in der Luft, ein Flammschutzmittel, nahm sie an, das nach Metallspänen und Talkumpuder schmeckte.
    Der Mann, Russell, das bemerkte sie erst nach einem Moment, redete wie aus großer Ferne mit ihr.
    Wach auf, sagte er. Sie hörten zwei Fahrzeuge auf der Schnellstraße über ihnen vorbeifahren, dann nochmal drei oder vier.
    Ich weiß immer noch nicht, wie du heißt, sagte er. Sie spürte, wie ihre Nase sich weitete, vor lauter Heimweh.
    Was immer da gerade mit ihrer Nase geschah, es fühlte sich an wie tiefe Trauer.
    Aber sie konnte sich nicht daran erinnern, worüber sie traurig war. Sie hatte genug Zeit, um sich darüber klar zu werden, dass das, was sie traurig machte, eine gewaltige Last war, die sie seit langem mit sich herumschleppte, und was genau es auch sein mochte, es war eine Erleichterung, sich nicht daran zu erinnern.
    Sie wollte sich so lange wie möglich nicht daran erinnern, denn es war eine gewaltige Erleichterung.
    Und dann erinnerte sie sich: Sie vermisste ihren Stiefvater.
    Und wegen dieser kurzen Pause, in der sie, anders als in den vier Jahren zuvor, nicht an seinen Tod gedacht hatte, einer Pause, die damit zusammenhing, dass ihre Nase eingedrückt worden war, einer Pause, die damit zusammenhing, dass sie beinahe selbst gestorben wäre, wegen dieser sehr kurzen, erhebenden Pause kam die Trauer mit dreifacher Wucht zurück.
    Es war wie ein Schlag in die Magengrube, und ihr blieb die Luft weg, was möglicherweise auch mit dem Airbag und vielleicht mit einer gebrochenen Rippe zusammenhing.
    Ihr war blitzartig etwas klar geworden, als sie sich auf der Straße überschlagen hatten und dann auf dem Dach des Transporters die Böschung hinuntergerutscht waren: Jeder einzelne Moment ihrer Zukunft würde ohne David stattfinden.
    Was auch kommen mochte, David würde nicht dabei sein.
    So weit hatte sie bisher noch nicht vorausgedacht.
    Jetzt sah sie es.
    Zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart war eine Tür zugeschlagen, mit der gleichen Wucht, mit der es Colleen gegen die Windschutzscheibe geschleudert hatte. Und ihr Stiefvater war hinter dieser Tür. Da gab es keine Auszeit, keine Entlastung.
    Colleen würde zu wer weiß wem werden, und David würde es nicht erleben.
    Sie konnte nicht fragen: Bist du stolz auf mich? Sie erinnerte sich noch, welches Kleid sie zur Beerdigung getragen hatte, aber sie wusste nicht mehr, welche Schuhe. Das war es, was sie so bekümmerte, als sie neben der Schnellstraße kopfüber in dem Transporter hing. Sie hatte jedes Detail der Beerdigung im Gedächtnis bewahren wollen. Aber sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern,

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