Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Rachen des Alligators

Im Rachen des Alligators

Titel: Im Rachen des Alligators Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Moore
Vom Netzwerk:
auftauchte. Sie kam in Jogginghose, Strickjacke und schwarzer Baseballkappe, und hinter ihren Ohren hing jeweils ein rosa Lockenwickler. Sie hatte die Fäuste in den Taschen ihrer Jacke vergraben. Die Fingerknöchel beulten den Strickstoff aus.
    Er hatte sie noch nie in der George Street gesehen.
    Frank, du musst nach Hause kommen, sagte sie. Frank reichte dem Mann, der vor ihm stand, seinen Hotdog.
    Alles ist voll Wasser, sagte Carol. Frank beobachtete, wie der Mann versuchte, sich bei den Speckwürfelchen zu bedienen. Er schwankte leicht und schien tief in Gedanken versunken. Carol zupfte an Franks Ärmel.
    Bringen Sie bitte die Löffel nicht durcheinander, sagte Frank. Der Mann hielt den Löffel aus dem Mais-Relish hoch und blinzelte ungläubig.
    Die verschiedenen Beigaben haben jeweils ihren eigenen Löffel, sagte Frank.
    Darf ich keinen Speck nehmen?, fragte der Mann.
    Der Putz kommt schon von der Decke, sagte Carol.
    Doch, das dürfen Sie, aber nehmen Sie dazu bitte den Löffel für den Speck, sagte Frank.
    Das Wasser steht zwei Zentimeter hoch, sagte Carol. Ich traue mich gar nicht, eine Lampe anzumachen, nachher krieg ich noch einen Schlag. Es kommt aus deiner Wohnung, Frank. Hast du vielleicht irgendwas in die Toilette geworfen?
    Also gut, dann machen Sie halt, sagte Frank. Der Mann hielt immer noch wie gelähmt den Löffel in die Luft.
    Machen Sie halt was?
    Es ist egal, welchen Löffel Sie nehmen, sagte Frank.
    Das Mädchen, das neulich bei dir oben war, ein Tampon vielleicht oder sowas, war mein erster Gedanke, sagte Carol.
    Ist das echter Speck?, fragte der Mann.
    Es sind Speckstückchen, sagte Frank. Der Mann bediente sich, und die Speckstückchen tanzten und hüpften über den Löffel, und die meisten landeten auf dem Bürgersteig, bevor der Löffel den Hotdog erreicht hatte. Dann legte der Mann den Hotdog auf die Metallablage und torkelte ohne ihn davon.
    Franks Wohnungstür stand offen, als sie kamen, und er blieb im Hausflur stehen und lauschte. Carol stand neben ihm. Er machte das Licht an und sah, dass alles triefend nass war. Er zog das Bettzeug von seinem Wasserbett und sah, dass es von oben bis unten aufgeschlitzt worden war. Ein einziger langer Schnitt.
    Die Urne mit der Asche seiner Mutter lag auf dem nassen Teppich, jemand hatte die Asche auf den Boden gekippt und war darübergelaufen. Er sah die Stiefelabdrücke. Carol stand direkt hinter ihm, sie starrten beide auf den Haufen Asche, und sie hielt ihn immer noch am Ärmel. Dann schob sie sich an ihm vorbei.
    Sie kniete sich hin, stellte die Urne wieder auf und schöpfte mit beiden Händen die Asche hinein. Die Asche klumpte und roch stark nach nasser Asche. Sie roch nach dem, was sie war. Carol fuhr mit den Händen über den nassen Teppich, bis sie den größten Teil der Asche zusammengeschoben hatte, und dann entdeckte sie den Deckel der Urne, der in den Einbauschrank gerollt war. Sie rutschte auf den Knien hin, griff nach dem Deckel, rutschte zurück und setzte den Deckel auf die Urne. Dann stand sie auf, stöhnte, weil ihr das Kreuz weh tat, und wusch sich am Spülbecken die Hände.
    Sie nahm einen Spritzer Abwaschmittel und benutzte das Geschirrtuch, um sich die Hände abzutrocknen. Er hatte die Asche eigentlich zum Signal Hill bringen wollen, sich aber nicht von ihr trennen können und es immer vor sich hergeschoben.
    Irgendwann war ihm der Gedanke gekommen, dass er die Asche ja auch behalten könnte. Der Gedanke weckte die Befürchtung in ihm, dass er zuviel allein war. So eine Idee hatte doch nur ein Mensch, der aus dem Gleichgewicht geraten war.
    Er dachte keineswegs, die Asche trage noch den Geist seiner Mutter in sich, er nahm sie als genau das, was sie war: das, was übriggeblieben war, nachdem man den Leichnam seiner Mutter im Krematorium verbrannt hatte.
    Er begriff das neuzeitliche Ritual – oder meinte es zu begreifen –, die Asche von einem trauernden Angehörigen verstreuen zu lassen. Er hatte sich schon ausgemalt, bei welchem Wetter und an welcher Stelle des Wegs er die Asche verstreuen würde.
    Die Urne hatte 700 Dollar gekostet. Er bezweifelte, dass seine Mutter jemals in ihrem Leben soviel Geld für einen Luxusgegenstand ausgegeben hatte. Die Urne war aus massivem Messing und dezent gestaltet. Aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, sie leiste ihm Gesellschaft.
    Jetzt war die Asche triefnass, es war der blanke Hohn. Er konnte sich gut vorstellen, wie Valentin sich Einlass verschafft und ohne jeden Skrupel das

Weitere Kostenlose Bücher