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Im Rausch der Freiheit

Im Rausch der Freiheit

Titel: Im Rausch der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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stand jetzt neben seiner Mutter und hielt die andere Hand der kleinen Maria fest. Er war von kleiner Statur, hatte einen runden Kopf, und die angeklatschten dünnen Haarsträhnen konnten nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass er fast glatzköpfig war. Lange nicht so kräftig wie Salvatores Vater, der ihn lediglich mit Duldung behandelte, hatte er in einem Laden gearbeitet; dass er lesen und schreiben konnte und gern mit seiner Schwester in die Kirche ging, imponierte den übrigen Männern der Familie kaum. »Lesen und Schreiben ist Zeitverschwendung«, pflegte Salvatores Vater zu sagen. »Und die Pfaffen sind allesamt Gauner.« Onkel Luigi war ein bisschen verschroben. Manchmal summte er vor sich hin und starrte dabei ins Leere, als träume er. Aber die Kinder liebten ihn alle, und Concetta beschützte ihn.
    Salvatore hatte man zwischen Anna und Paolo platziert. Anna, schmal und ernst, war zwar erst neun, aber als älteste Tochter half sie ihrer Mutter bei allem. Sie und Paolo kamen nicht immer gut miteinander aus, aber Salvatore mochte Anna gern, weil sie, als er klein war, mit ihm immer im Wald spazieren gegangen war und ihm oft Schokolade gegeben hatte.
    Was Paolo anging, so war er keine zwei Jahre älter als Salvatore und sein bester Freund; sie machten immer alles zusammen. Während der Überfahrt war Paolo krank gewesen, und er hustete noch immer, doch jetzt schien es ihm besser zu gehen, und Onkel Luigi meinte, die frische Luft würde ihn wieder auf die Beine bringen.
    Salvatore liebte seine Familie. Er hätte sich ein Leben ohne sie gar nicht vorstellen können. Und jetzt hatten sie alle den Ozean unbeschadet überquert, und Ellis Island lag vor ihnen. Dort würden sie, wie er wusste, alle untersucht werden, bevor man ihnen erlaubte, in Amerika einzureisen.
    Und das war das schreckliche Geheimnis, das er seinen Vater eine knappe Stunde zuvor zu seiner Mutter hatte sagen hören: Einer aus der Familie würde es nicht schaffen.
    *
    Rose Vandyck Master starrte das Gemälde an. Es war ein bezauberndes Aquarell, das ihr Cottage in Newport darstellte, und es gefiel ihr so gut, dass sie es in ihrem Boudoir aufgehängt hatte, über dem kleinen französischen Sekretär, an dem sie gern Briefe schrieb. Ihr Mann William war in der Firma, und die Kinder spielten draußen, so konnte sie sich ungestört konzentrieren. Sie trug ihr breites, enges Perlenhalsband, denn aus irgendeinem Grund schien sie am besten nachdenken zu können, wenn sie ihre Perlen anlegte. Und sie musste besonders gut nachdenken, denn sie stand vor einer der schwierigsten Entscheidungen ihres Lebens.
    Rose Master führte ein privilegiertes Leben, und das war ihr durchaus bewusst. Sie war eine treue Ehefrau und eine liebevolle Mutter, und sie führte ihre zwei Haushalte auf mustergültige Weise. Doch das alles hatte sie nicht ohne harte Arbeit und Berechnung erreicht. Und nachdem sie so weit gekommen war, hätte es niemanden verwundert, dass sie die feste Absicht hatte, es noch weiter zu bringen. Wenn ihr Mann an der Vermehrung des Familienvermögens arbeitete, dann bestand ihre Aufgabe, so wie sie es sah – und die meisten Frauen, die sie kannte, würden ihr recht geben –, darin, ihr gesellschaftliches Ansehen zu erhöhen. Ja, für eine mit Ehrgeiz gesegnete oder geschlagene verheiratete Frau ihrer Schicht und ihrer Zeit gab es abgesehen davon nicht viel, was sie sonst vollbringen konnte.
    Die Frage, die sich ihr stellte, war alles andere als einfach. Es gab viele Dinge zu berücksichtigen, Gelegenheiten wahrzunehmen, gesellschaftliche Fallstricke zu umgehen. Und je höher man die gesellschaftliche Stufenleiter hinaufstieg, desto eingeschränkter war die einem verbleibende Entscheidungsfreiheit.
    Wo sollte die Familie wohnen?
    Im Sommer natürlich immer im Cottage.
    Jede Familie brauchte ein Cottage. Mit Cottage war ein Sommerhaus am Meer gemeint, es konnte bescheiden oder ein Herrensitz sein. Die vornehme Welt besaß Cottages in Newport, Rhode Island.
    Dieser Ort war aus gutem Grund gewählt worden. Wie die Briten und die Franzosen bereits in vergangenen Jahrhunderten entdeckt hatten, war die Bucht dort tief und geschützt. Der New York Yacht Club, der beim America’s Cup mittlerweile das elitäre Royal Yacht Team regelmäßig schlug, hatte hier seinen Sitz. Newports langer Küstenstreifen bot genügend Platz für alle Cottages, die die feine Gesellschaft brauchte. Gehörte man erst einmal zur Newport-Society, hatte man es ganz nach oben

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