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Im Rausch der Freiheit

Im Rausch der Freiheit

Titel: Im Rausch der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Vater?«, fragte Gerald.
    »Mein Vater?« Sie war so stolz auf sich gewesen, dass sie mit keiner weiteren Frage gerechnet hatte. »Mein Vater?« Sie spürte, wie sie blass wurde. Die Erinnerung an die entsetzliche Trostlosigkeit ihrer winzigen Wohnung in Five Points, an all das, worüber sie nicht sprechen durfte, erfüllte sie plötzlich mit einer kalten Angst. Die Augen ihrer Angehörigen ruhten gespannt auf ihr. Was in aller Welt sollte sie jetzt sagen?
    »Ah«, sagte Sean mit lauter Stimme. »Also, der war ein Original!«
    Sofort ruhten alle Augen auf ihm.
    »Mein Vater«, sagte Sean, »war ein Kapitalanleger. Wohlgemerkt – wie viele Anleger hatte er seine guten und seine schlechten Tage, und so konnten wir niemals sicher sein, ob uns Reichtum oder Ruin bevorstand. Aber nun« – er lächelte leutselig – »wir sind noch hier!«
    Nachdem sie um ein Haar untergegangen wäre, tauchte Mary jetzt wieder auf und schnappte nach Luft. Fasziniert betrachtete sie ihren Bruder. Er hatte nicht einmal gelogen – ihr Vater pflegte seine Wetten als »Investitionen« zu bezeichnen, und er hatte in der Tat gute und schlechte Tage gehabt. Die Weise, wie Sean, ohne es ausdrücklich zu behaupten, die Vermutung genährt hatte, der alte Herr sei an der Wall Street gewesen, war für sie ebenso bewundernswert wie etwa die Fingerfertigkeit eines Pianisten. Und seine Feststellung »Wir sind noch hier« war schlichtweg genial gewesen. Denn natürlich waren sie noch da – aber es wurde mit Sicherheit so verstanden, dass das Familienvermögen nie verloren ging, sondern gewachsen war. Doch ihr Bruder war noch nicht fertig.
    »Vor allem aber war mein Vater, wie Jerome und Belmont und so viele andere, ein Sportsmann. Liebte die Rennbahn. Liebte die Wette.« Er blickte Mary über den Tisch hinweg direkt ins Auge. »Er hatte ein eigenes Rennpferd – sein ganzer Stolz und seine ganze Freude – mit Namen Brian Boru.«
    Dass sie sich nicht verschluckte, grenzte an ein Wunder. Sie senkte die Augen auf den Tisch. Dieser fürchterliche alte Kampfhund, der in ihrer stinkenden Wohnung gehaust hatte, war von Sean, wie es nur ein echter Ire vermag, in ein schnelles, schlankes Rennpferd verwandelt worden.
    »Und als er starb«, fuhr Sean fort, »wurden die Überreste dieses Pferdes mit ihm begraben.«
    »Wirklich?« Lord Rivers bekundete seine ungeteilte Billigung; englische Aristokraten hatten eine Schwäche für Sportsmänner und Exzentriker. »Was für ein prachtvoller Bursche! Ich hätte gern seine Bekanntschaft gemacht.«
    »Nicht nur das – es war der Priester der Familie, der sie beide begrub.« Und er lehnte sich zurück und ließ den Blick gütig über die Tafelrunde schweifen.
    »Magnificent!«, riefen Seine Lordschaft und dessen Sohn unisono aus. Stil, Exzentrik, eine aristokratische Missachtung aller Wohlanständigkeit – und ein Pfaffe, der so klug war, nicht lästig zu werden: Dieser Mr O’Donnell war ganz offensichtlich ein geborener Dandy gewesen, ein Mann nach ihrem Herzen.
    »Hat der Priester sie wirklich beide begraben?«, fragte Lady Rivers Mary.
    »Ich war dabei, und es ist wahr: Der Priester begrub meinen Vater zusammen mit Brian Boru.«
    Und auch dies war nicht gelogen.
    *
    Später, nachdem die Rivers gegangen waren, begaben sich Mary und Sean zusammen in den Salon und ließen den Abend ausklingen.
    »Ich brauch jetzt was zu trinken«, sagte Mary.
    Er schenkte ihr einen Brandy ein. Sie hielt ihr Glas eine ganze Weile in der Hand, ohne zu trinken.
    »Woran denkst du, Mary?«, fragte er.
    »Dass du der Teufel in Person bist«, antwortete sie.
    »Gar nicht.«
    »Brian Boru.«
    Und dann lachte sie und lachte immer weiter, bis ihr die Tränen kamen.

DIE CARUSOS
1901
    Salvatore Caruso war erst fünf Jahre alt, als er in Ellis Island von Bord ging. Es war Neujahr 1901. Die Luft war eiskalt, aber klar, und der Himmel über der verschneiten Landschaft, die die Bucht umgab, war kristallblau.
    Die Familie Caruso hatte Glück gehabt. In Neapel hatten sie sich auf der Werra eingeschifft – für eine deutsche Reederei in Glasgow gebaut, ein Viermaster der 1255 Passagieren Platz bot –, und sie hatten den Atlantik in weniger als zehn Tagen überquert. Das Zwischendeck war überfüllt gewesen. Vom Geruch der Latrinen hatte er sich fast übergeben müssen, und das Stampfen der Maschinen, sagte seine Mutter, war eine Strafe Gottes. Aber während der Überfahrt hatte es keine Stürme gegeben, und sie hatten täglich für eine Stunde an

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