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Im Schatten der Akazie

Im Schatten der Akazie

Titel: Im Schatten der Akazie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Jacq
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sich die Lebenden, wenn sie das Bedürfnis verspürten, die Geheimnisse des Totenreiches zu ergründen.
    Nach dem Ritual begab sich Ramses in den Garten des Tempels, in dessen höchstem Baum, einer Sykomore, Graureiher nisteten.
    Die sanften, schwermütigen Töne einer Oboe bezauberten ihn. In der getragenen Melodie schwang Trauer mit, zuweilen von einem Lächeln aufgeheitert, als ob es der Hoffnung immer wieder gelänge, die Trübsal zu vertreiben.
    Im Schütze des Laubwerks saß die Musikantin auf einer niedrigen Mauer. Sie spielte mit geschlossenen Augen. Ihr glänzendschwarzes Haar umrahmte klare Gesichtszüge, so ebenmäßig wie die Züge einer Göttin. Im Alter von dreiunddreißig Jahren hatte Merit-Amun den Gipfel ihrer 33

    Schönheit erreicht.
    Ramses schnürte es das Herz zusammen. Sie sah ihrer Mutter, Nefertari, so ähnlich, daß sie ihre Doppelgängerin hätte sein können. Für Musik begabt, hatte sich Merit-Amun bereits in sehr jungen Jahren dazu entschlossen, in einen Tempel einzutreten und dort ein zurückgezogenes Leben im Dienste der Gottheit zu führen. Das war auch Nefertaris Traum gewesen, den Ramses zunichte gemacht hatte, als er sie bat, seine Große königliche Gemahlin zu werden. Merit-Amun könnte den höchsten Rang unter den Musikantinnen im Tempel von Karnak einnehmen, zog es jedoch vor, hier zu wohnen, nahe der Seele von Sethos.
    Während die letzten Töne verhallten, legte sie ihre Oboe auf das Mäuerchen und schlug die blaugrünen Augen auf.
    »Vater! Bist du schon lange hier?«
    Ramses schloß seine Tochter in die Arme und drückte sie innig an sich.
    »Du fehlst mir, Merit-Amun.«
    »Der Pharao ist der Gemahl Ägyptens, sein Kind ist das gesamte Volk. Obendrein hast du mehr als hundert Söhne und Töchter, erinnerst du dich da überhaupt noch an mich?«
    Er trat einen Schritt zurück und sah sie voller Bewunderung an.
    »Ach, diese ‹Kinder des Königs› … Das sind doch nur Ehrentitel. Aber du, du bist die Tochter Nefertaris, meiner einzigen Liebe.«
    »Jetzt ist Iset die Schöne deine Gemahlin.«
    »Verübelst du mir das?«
    »Nein, du hast recht getan, sie wird dich bestimmt nicht enttäuschen.«
    »Bist du bereit, nach Pi-Ramses mitzukommen?«
    »Nein, Vater. Die Welt außerhalb des Tempels bedeutet mir 34

    nichts. Gibt es etwas Wichtigeres als die Riten? Ich denke jeden Tag an meine Mutter: Ihr Traum ist für mich wahr geworden, und ich bin überzeugt, daß mein Glück ihre Ewigkeit nährt.«
    »Sie hat dir ihre Schönheit und ihr Wesen vererbt. Bleibt mir wenigstens eine schwache Hoffnung, daß ich dich doch noch überreden kann?«
    »Nicht die geringste, das weißt du genau.«
    Sanft griff er nach ihren Händen.
    »Wirklich nicht?«
    Sie lächelte mit dem Liebreiz Nefertaris.
    »Erwägst du etwa, mir den Befehl zu erteilen?«
    »Du bist der einzige Mensch, bei dem der Pharao es sich versagt, seinen Willen aufzuzwingen.«
    »Das ist keine Ausrede, Vater, aber im Tempel bin ich nützlicher als bei Hof. Den Geist meiner Großeltern und meiner Mutter am Leben zu erhalten ist mir eine erhabene Pflicht. Was für eine Welt würden wir ohne die Bande zu unseren Ahnen aufbauen?«
    »Spiele weiter diese himmlische Musik, Merit-Amun.
    Ägypten wird sie nötig haben.«
    Angst faßte der jungen Frau ans Herz.
    »Welche Gefahr befürchtest du?«
    »Uns droht Unheil.«
    »Kannst du es nicht abwehren?«
    »Spiele, Merit-Amun, spiele auch für den Pharao! Schaffe Harmonie, bezaubere die Götter, lenke ihre Gunst auf die Beiden Länder, denn das Unheil rückt näher, und es wird furchtbar werden.«
    35

    FÜNF

    SERRAMANNA SCHLUG MIT der Faust so heftig an die Wand der Wachstube, daß der Gips abbröckelte.
    »Was heißt da, verschwunden?«
    »Er ist spurlos verschwunden, Kommandant«, beteuerte der Soldat, der den Auftrag gehabt hatte, den hethitischen Prinzen Uriteschup nicht aus den Augen zu lassen.
    Der sardische Riese packte seinen Untergebenen an den Schultern, daß der Unglücksrabe, der durchaus robust war, vermeinte, zerquetscht zu werden.
    »Hältst du mich zum Narren?«
    »Nein, Kommandant, ich schwöre es.«
    »Also hat er sich vor deinen Augen aus dem Staub gemacht?«
    »Er ist mir im Gewühl der Menge entwischt.«
    »Und weshalb hast du nicht alle Häuser des Viertels durchsuchen lassen?«
    »Dieser Uriteschup ist ein freier Mann, Kommandant! Wir haben keinen Grund, ihm die Ordnungskräfte auf den Hals zu hetzen. Der Wesir würde uns der Amtsanmaßung

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