Im Schatten der Drachen (MYTHENLAND - Band 1 bis 5 komplett) (German Edition)
verdrossene junge Mann, den er sah, tat ihm Leid. Er argwöhnte, diese Gegenüberstellung stelle eine Probe dar. Das war lächerlich. Unweigerlich musste er an Grisolde denken und an seine Minister und an Dandoria. Er begann zu lachen, lauthals zu lachen.
»Nurrmar korrrol drrrot!«, knurrte er und lachte weiter.
Erwartungsgemäß verschwand das Bild. Die Energie seiner Ummantelung drang in jede seiner Fasern ein, erfüllte ihn mit einer Kraft, von deren Existenz er nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Auf einer tieferliegenden Ebene wusste er, dass er wuchs. Dass sein Körper sich veränderte. Hatte er Schmerzen gefürchtet, wurde er eines Besseren belehrt.
Sein Herz pochte laut und schloss sich dem regelmäßigen Stampfen der Steinriesen an. Ein Rhythmus, der Takt des Lebens. Es pumpte langsamer und langsamer, wuchs und schickte Unmengen Blut durch seine Adern. Der Prozess geschah gleichmäßig und mochte so unangenehm sein, wie ein Baby seine Geburt erlebte. Er hatte aufgehört, darüber nachzudenken. Er ritt auf den Wellen seiner Umgestaltung und jubilierte.
Eine Form der Metamorphose aus dem Leib in die Welt, an die er sich vermutlich nicht mehr erinnern würde, war sie abgeschlossen. Das ahnte er, deshalb genoss er jeden Atemzug. Atemzüge, die seine Brust schwellen ließen, seinen gigantischen Körper erbebten. Unter seinen Füßen spürte er Fels, dennoch hatte sich sein Blickpunkt kein bisschen verändert. Er überragte fast jeden der anderen Riesen, abgesehen von Triomos.
Ohne dass er den Übergang gespürt hätte, verschwand das geheimnisvolle Licht und Mutter Xentilos beschloss ihren Gesang. Hunderte Riesen starrten ihn an. Weit unten, sehr klein, sah er Jamus und Egg, deren Augen aufgerissen waren wie Seen.
Er nickte sehr langsam, machte einen donnernden Schritt und führte seine Schulterblätter zusammen. Er war nackt, doch das störte ihn nicht. Er konnte sein, wie er wollte.
»Nurrmar korrrol Rooooon!«, brüllte er und nicht wenige aus seinem Volk beugten die Köpfe und wiederholten, was er gesagt hatte: »Rooooon! ROOOOON!«
Später kam es ihm vor, als habe das alles nur Sekunden gedauert, erst Jamus sagte ihm, seine Veränderung habe mehr als drei Stunden gedauert. Da wusste Ron, der Riese, dass sich sein Zeitgefühl verändert hatte. Sein Herz schlug einen langsameren Takt der Zeit.
Man hatte ihn bekleidet. Leder, Leinen, Schnüre.
Er fürchtete sich, nach einem Spiegel zu verlangen. Fürchtete, der Schock würde ihn töten.
Zuerst versuchte er, seine veränderte Wahrnehmung mit dem in Einklang zu bringen, was er als Mensch gekannt hatte. Er sah Farben, die er nie erblickt hatte. Er entdeckte, dass der Himmel nicht blau war, sondern von einer Vielzahl Farben durchzogen, die sich mischten. Seine laute Stimme nahm er als angenehm wahr. Seine Ohren vernahm Dinge, die sich hinter den Wälder abspielten, das Gehör einer Raubkatze. Lediglich sein erhöhter Blickpunkt verwirrte ihn. Er versuchte erste Schritte und strauchelte. Ihm wurde schwindelig, als ginge er auf Stelzen, wie es die Diebe von Dalven zu tun pflegen, wenn sie in das Schlafgemach eines Adeligen eindringen.
Ansonsten waren alle Bewegungen proportional richtig. Da diese Welt für Riesen vorgesehen war, erkannte er erleichtert, dass ein Topf wieder aussah wie ein Topf und eine Heimstatt wie eine Heimstatt.
Lediglich Jamus und Egg wirkten wie Haustiere, kleine Hündchen, die um seine Füße streunten. Ron betrog sich, indem er sich vorstellte, auf einem Berg zu stehen und zu seinen Freunden hinab zu schauen. Als er sich jedoch bückte und Jamus auf seine Handfläche nahm, begriff er, was das Ritual mit ihm angestellt hatte.
Nicht zuletzt die fremden Gedanken waren es, die ihn zu dem machten, was er war. Hier gab es Rondrick von Dandoria, der wie ein fröhlicher Singvogel weit hinten in seinem Verstand trillerte, dort gab es Erinnerungen und Sichtweisen, die neu waren. So neu, dass sie schmerzten. So frisch, dass er fürchtete, wahnsinnig zu werden. Zwei Erinnerungen, zwei Wesen in einem. Wie sollte er das dauerhaft ertragen?
Er sah Ronius’ Kindheit, seine erste Liebe und den Kampf gegen Jorgul. Er sah, wie er zu früh starb. Er sah die mitleidigen Augen von Okor über sich, der ihn zu heilen versuchte. Er sah das Ende und den Neubeginn.
Als ihm klar wurde, dass er sich selbst – oder das, was er gewesen war – verlieren würde, hockte er sich hin und weinte. Das hatte er nicht gewollt. Er wollte beides. Seine
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