Im Schatten der Gerechtigkeit
ziehen, der forsch seinen Geschäften nachging.
Hätte er sie mit dieser Geste beschützen wollen, sie hätte sie durchaus begrüßt, aber sie war aufdringlich und ungeduldig, als wäre sie nicht in der Lage, auf sich selbst aufzupassen. Mit einem Ruck riß sie sich los.
»Sie wußte etwas; er bat sie, damit nicht zur Krankenhausleitung zu gehen, und sie weigerte sich«, fuhr er, ohne darauf zu achten, fort.
»Das hört sich nicht nach der Prudence an, die ich gekannt habe«, sagte sie sofort. »Es muß schon etwas wirklich Ernstes gewesen sein. Sie haßte Obrigkeiten, sie hatte nichts als Verachtung für sie. Wie jeder, der in der Armee gewesen ist! Sind Sie sicher, daß die Information richtig ist?«
»Der Streit wurde gehört«, antwortete er. »Sie sagte, sie würde zur Krankenhausleitung gehen, und Beck flehte sie an, es nicht zu tun. Aber sie ließ sich nicht davon abbringen.«
»Aber Sie wissen nicht, worum es ging?« drängte sie ihn.
»Nein, natürlich nicht!« Er funkelte sie an. »Wenn ich es wüßte, würde ich Beck darauf ansprechen! Könnte es wahrscheinlich sogar Jeavis sagen und den Mann verhaften lassen, was Callandra kaum gefallen würde. Ich vermute, sie hat mich vor allem engagiert, um Becks Unschuld zu beweisen. Sie hat große Hochachtung vor ihm.«
Ihr war nach einem Streit, aber es war nicht der rechte Augenblick; es gab Wichtigeres als ihre Gefühle.
»Befürchten Sie denn, daß er es war?« fragte sie ruhig. Er sah sie nicht an. »Ich weiß es nicht. Die Auswahl scheint nicht sehr groß. Hatte sie Streit mit einer der Schwestern? Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie sehr beliebt war, wenn ihre Reformideen auch nur annähernd den Ihren glichen. Ich nehme an, sie hat sich auch den Zorn einiger Ärzte zugezogen. Ihnen ist das ja bereits gelungen!«
Ihre guten Absichten waren auf der Stelle dahin. »Wenn Sie sich den Zorn eines Arztes zuziehen, dann entläßt er Sie!« erwiderte sie scharf. »Es ist doch unsinnig, jemanden zu ermorden, wenn man ihn so leicht und völlig ohne Risiko loswerden kann – und ihm damit obendrein noch schadet!«
Er stöhnte. »Sie haben einen präzisen und logischen Verstand. Das ist zwar recht nützlich, aber nicht sonderlich attraktiv. Ich frage mich, ob sie wohl genauso war? Was ist mit den Schwestern? Mochten die sie auch nicht?«
Sie war verletzt, auch wenn es lächerlich war. Sie wußte längst, daß er weibliche, verletzliche, geheimnisvolle Frauen bevorzugte. Sie erinnerte sich noch sehr gut daran, wie charmant er ihre Schwägerin Imogen gefunden hatte. Obwohl sie sehr wohl wußte, daß unter Imogens sanfter Art alles andere als ein törichtes, gefügiges Frauenzimmer steckte – sie wußte sich nur anmutig und reizvoll zu geben. Eine Kunst, die Hester völlig abging, und so dumm es auch sein mochte, gerade in diesem Augenblick war sie sich dieses Mangels schmerzlich bewußt.
»Was ist?« forderte er sie auf. »Sie haben sie doch bei der Arbeit gesehen, da müssen Sie doch einen Eindruck gewonnen haben!«
»Einige haben sie verehrt«, sagte sie rasch, das Kinn gehoben, ihre Schritte entschlossener. »Andere haben sie, was nur natürlich ist, beneidet. Sie können keinen Erfolg haben, ohne Neid zu riskieren. Das sollten Sie wissen!«
»War dieser Neid stark genug, um sie zu hassen?« Er war einfach logisch, ungeachtet seiner Gefühle.
»Möglicherweise«, sagte sie, nicht weniger vernünftig. »Es gibt da eine ausgesprochen große, kräftige Frau, eine gewisse Dora Parsons, die sie wirklich gehaßt hat. Ob das genügte, um sie zu erwürgen, kann ich nicht sagen. Es scheint mir jedenfalls etwas extrem – es sei denn, sie hatte einen ganz speziellen Grund.«
»Hatte Prudence die Macht, für ihre Entlassung zu sorgen, falls sie inkompetent war oder trank – oder stahl?« Er sah sie hoffnungsvoll an.
»Ich denke doch.« Sie hob geziert die Röcke, als sie über einen mit hohem Gras bewachsenen Flecken im Pfad gingen.
»Prudence arbeitete eng mit Sir Herbert. Er hat sie sehr gelobt. Ich kann mir vorstellen, daß ihm in so einem Fall ihr Wort genügt hätte.« Sie ließ die Röcke wieder fallen. »Und Dora Parsons ist sicher leicht zu ersetzen. Von ihrer Sorte gibt es in London Tausende.«
»Aber ausgesprochen wenige Prudence Barrymores«, dachte er ihren Gedanken zu Ende. »Und vermutlich gibt es noch einige Dora Parsons im Spital. Der Gedanke läßt also kaum irgendwelche Schlüsse zu.«
Sie gingen wieder eine Weile schweigend nebeneinander
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