Im Schatten der Gerechtigkeit
aussah, machten diese Tugenden ihre Mängel mehr als wett.
An diesem Tag freilich hätte sie sich etwas mehr Geschick im Umgang mit Haarnadeln und Kamm gewünscht. Sie sah nämlich aus, als wäre sie im gestreckten Galopp zur Party gekommen, und jedesmal, wenn sie eine verirrte Strähne zurechtzuzupfen versuchte, machte sie alles noch schlimmer und lenkte – falls das überhaupt möglich war – noch mehr Blicke auf sich.
Ihr Kleid war in einem mittleren Blauton mit weißen Borten. Es war nicht sonderlich modisch, stand ihr aber ausgezeichnet, was in ihrem Alter viel wichtiger war.
Sie war sich nicht wirklich sicher, was sie hier wollte. Selbst in der flüssigsten und geselligsten Unterhaltung mit Victoria Stanhope, sollte sich eine solche überhaupt bewerkstelligen lassen, konnte sie nicht einfach fragen, wer die tragische Operation vorgenommen hatte. Ganz zu schweigen davon, wieviel er für diese Tat – einen Dienst konnte man es ja wohl kaum nennen – verlangt hatte.
Sie stand am Rande des Rasens, gleich neben der Rabatte, die neben hohem Rittersporn, leuchtenden Pfingstrosen, fast schon verblühtem Klatschmohn und blauem Ehrenpreis auch köstlich duftende Katzenminze zierte. Sie fühlte sich elend, völlig fehl am Platz und kam sich albern vor. Es war sinnlos gewesen, hierherzukommen, und sie war drauf und dran, sich nach einer akzeptablen Entschuldigung umzutun, als ein älterer Herr sie in ein Gespräch verwickelte. Er schien entschlossen, ihr seine Theorien über die Nelkenzucht auseinanderzusetzen und legte dabei großen Wert darauf, daß sie auch verstand, welche Anweisungen sie ihrem Gärtner hinsichtlich des Schneidens zu geben hätte.
Dreimal versuchte sie ihm klarzumachen, daß ihr Gärtner sein Handwerk durchaus verstand, aber seine Begeisterung erstickte jeden Versuch im Keim; es dauerte eine Viertelstunde, bis sie sich endlich freimachen konnte und sich Arthur Stanhope, Sir Herberts Ältestem, gegenübersah. Er war ein schlanker junger Mann mit blassem Teint und glattem braunen Haar. Er mochte neunzehn sein und tat hier auf der Party seiner Mutter ganz offensichtlich nur seine Pflicht. Es wäre herzlos gewesen, ihn einfach stehenzulassen. Das einzig Anständige war, seine höflichen Fragen zu beantworten und eine völlig belanglose Unterhaltung zu führen.
Sie war damit beschäftigt, in den – wie sie hoffte – passenden Augenblicken »ja« oder »nein« zu sagen, als sie ein Mädchen von etwa siebzehn Jahren bemerkte, das einige Meter weiter wartete. Sie war sehr dünn und schien fast schief zu stehen, als würde sie beim Gehen hinken. Ihr Kleid war hübsch, von zartem Rosa und ausgezeichnetem Schnitt, aber auch das große Geschick der Schneiderin konnte nicht von dem abgespannten Ausdruck, und den Halbmonden unter den müden Augen ablenken. Callandra hatte zu viele Invaliden gesehen, um nicht sofort die Anzeichen physischer Qualen zu erkennen; sie waren nicht weniger deutlich als ihre Haltung, die erkennen ließ, daß sie das Stehen ermüdend fand.
»Entschuldigen Sie«, unterbrach sie Arthur Stanhope gedankenlos.
»Wie?« Er sah sie verwirrt an. »Ja?«
»Ich habe den Eindruck, die junge Dame wartet auf Sie.« Sie wies auf das Mädchen in Rosa.
Er drehte sich um und folgte ihrem Blick. Sein Gesicht bot eine ganze Palette von Emotionen: Unbehagen, Zärtlichkeit, Irritiertheit und das Gefühl, sie in Schutz nehmen zu müssen.
»Oh – ja. Das ist meine Schwester… Victoria, komm doch her, ich möchte dir Lady Callandra Daviot vorstellen.«
Victoria zögerte; jetzt, wo sie die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt sah, wurde sie verlegen.
Callandra wußte, welche Art Leben ein Mädchen erwartete, das nicht auf eine Ehe hoffen konnte. Sie würde finanziell immer von ihrem Vater abhängig sein und von ihrer Mutter, was Kameradschaft und Zuneigung anbelangte. Sie würde nie ein eigenes Heim haben, es sei denn, sie war das Einzelkind wohlhabender Eltern, was Victoria aber nicht war. Erben würde natürlich Arthur, abgesehen von einer angemessenen Mitgift für die Schwestern, die zu verheiraten waren. Seine Brüder würden ihre eigenen Wege gehen, mit einer angemessenen Ausbildung und einer ansehnlichen Starthilfe.
Das Schlimmste wäre das Mitleid, die wohlwollenden und furchtbar grausamen Bemerkungen, die unüberlegten Fragen, die jungen Männer, die ihr den Hof machten – bis sie die Wahrheit erfuhren.
Trotz dieser unerträglichen Gedanken lächelte Callandra das Mädchen an. »Guten Tag,
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