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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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entblößten Häuptern von einem schweren Verlust sprachen.
    Er sah Callandra, still und diskret; sie war nicht als Vertreterin des Verwaltungsrats hier, sondern privat. Diese offizielle Funktion erfüllte vermutlich einer der feierlichen Herren auf der anderen Seite des Mittelgangs. Sir Herbert hatte ein Gebinde geschickt, ein anderer war vom Hospital: ein nüchternes Arrangement aus weißen Lilien mit ein paar passenden Zeilen.
    Wie es der Zufall wollte, traf er nach der Messe auf Mr. Barrymore, ihm auszuweichen wäre eine ostentative Unhöflichkeit gewesen. Aber andererseits war es ihm unmöglich, irgendeine Banalität zu sagen. Er begegnete Barrymores Blick und lächelte verhalten.
    »Ich danke Ihnen für Ihr Kommen, Mr. Monk«, sagte Barrymore aufrichtig. »Das ehrt Sie wirklich, da Sie sie schließlich nicht gekannt haben.«
    »Immerhin weiß ich eine ganze Menge über sie«, antwortete Monk. »Und auch was ich erfahren habe, es läßt mich den Verlust um so tiefer spüren. Ich bin hier, weil ich hier sein wollte.«
    Barrymores Lächeln wurde breiter, aber seine Augen füllten sich plötzlich mit Tränen, so daß er einen Augenblick schweigen mußte, bis er wieder Herr über sich war.
    Monk war keineswegs verlegen. Der Kummer des Mannes war aufrichtig, es gab nichts, was den Betrachter mit Scham zu erfüllen brauchte. Monk streckte ihm die Hand entgegen, und Barrymore ergriff sie fest, um sie herzlich zu drücken; dann ließ er wieder los.
    Erst dann bemerkte Monk die junge Frau halb hinter ihm. Sie war von durchschnittlicher Größe und hatte ein feingeschnittenes intelligentes Gesicht, das unter anderen Umständen voller Humor gewesen wäre; seine Lebhaftigkeit hätte ihm viel Charme verliehen. Aber selbst jetzt, bei aller Schwermut, verrieten die Fältchen ihren Charakter. Die Ähnlichkeit mit Mrs. Barrymore war unverkennbar. Sie mußte Faith Barber, Prudence’ Schwester, sein. Da Barrymore gesagt hatte, sie lebe in Yorkshire, war sie vermutlich nur zur Beerdigung hier, so daß er später keine Gelegenheit mehr hätte, mit ihr zu sprechen. Wie unpassend und unsensibel es auch schien, er mußte darauf bestehen.
    »Mrs. Barber?« erkundigte er sich.
    Sie zeigte sofort Interesse. Sie musterte ihn offen von Kopf bis Fuß. »Sind Sie Mr. Monk?« erkundigte sie sich mit einer Höflichkeit, die ihren Worten die Unverblümtheit nahm. Ihr Gesicht war bemerkenswert gefällig, jetzt, wo sie die Feierlichkeit der Trauer für einen Augenblick ablegte. Er sah in ihr das Mädchen, das ihre Mutter beschrieben hatte, das Mädchen, das tanzte und flirtete.
    «Ja«, sagte er und fragte sich, was man ihr wohl über ihn gesagt hatte. Sie bedachte ihn mit einem vertraulichen Blick und legte ihm eine schwarzbehandschuhte Hand auf den Arm.
    »Können wir uns ein paar Minuten unter vier Augen unterhalten? Es ist mir klar, daß ich Ihre Zeit beanspruche, aber ich wäre Ihnen dankbarer, als Sie sich vorstellen können.«
    »Natürlich«, sagte er rasch. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, mich zum Haus zu begleiten?«
    »Ich danke Ihnen.« Sie nahm seinen Arm, und zusammen gingen sie durch die Trauernden aus dem Schatten der Kirche hinaus in die Sonne und suchten sich einen Weg zwischen den Grabsteinen hindurch in einen grasbewachsenen ruhigen Winkel neben der Mauer.
    Sie hielt ihn an und wandte sich ihm zu. »Papa sagt, Sie untersuchen Prudence’ Tod, und zwar unabhängig von der Polizei. Stimmt das?«
    »Ja.«
    »Aber Sie werden zur Polizei gehen, wenn Sie etwas Wichtiges herausfinden, und sie zwingen, entsprechend zu handeln?«
    »Wissen Sie denn etwas, Mrs. Barber?«
    »Ja – und ob ich etwas weiß. Prudence hat mir alle zwei, drei Tage geschrieben, ganz gleich wie beschäftigt sie war. Aber es handelte sich dabei nicht lediglich um Briefe, sondern eher um eine Art Tagebuch mit Bemerkungen zu den Fällen, die sie für medizinisch lehrreich hielt.« Sie sah ihn durchdringend an. »Ich habe sie alle hier – oder wenigstens die aus den letzten drei Monaten. Ich denke, das wird reichen.«
    »Reichen wozu, Madam?« Er spürte die Erregung, die in ihm aufkam, aber er wollte nicht vorschnell sein für den Fall, daß sich das Ganze als schlecht begründeter Verdacht erweisen sollte, als bloße Vermutung, die dem natürlichen Wunsch einer Schwester nach Rache – oder Gerechtigkeit, wie sie wohl gesagt hätte – entsprangen.
    »Ihn zu hängen«, sagte sie entschieden. Plötzlich war jeglicher Charme aus ihrem Blick verschwunden, und

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