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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Miss Stanhope«, sagte sie mit allem Charme, den sie aufzubringen vermochte, und das war weit mehr, als ihr klar wurde.
    »Guten Tag, Lady Callandra«, antwortete Victoria mit einem zaghaften Lächeln.
    »Was für einen entzückenden Garten Sie haben«, fuhr Callandra fort. Die Unterhaltung zu führen oblag Callandra nicht nur, weil sie um ein Beträchtliches älter war, sondern weil es ihr nicht entging, daß Victoria ihren Pflichten weder gewachsen war noch große Freude an ihnen hatte. Ihre Unbeholfenheit auf gesellschaftlichem Parkett war ein Nadelstich im Vergleich zu der tödlichen Wunde, die man ihr beigebracht hatte. »Wie ich sehe, haben Sie auch einige hübsche Nelken. Ich liebe ihren Duft über alles, Sie nicht auch?« Victoria antwortete mit einem Lächeln. »Ein Herr mit einem Monokel erklärte mir eben, wie man zwei Arten miteinander kreuzt.«
    »O ja, Oberst Strother«, sagte Victoria rasch und trat einen Schritt näher. »Ich fürchte, er neigt dazu, sich etwas zu sehr über das Thema zu verbreiten.«
    »Ein klein wenig«, gab Callandra zu. »Trotzdem, sie sind ein angenehmes Thema, und er hat es höchstwahrscheinlich nur gut gemeint.«
    »Ich höre lieber Oberst Strother über Nelken sprechen als Mrs. Warburton über die Unmoral unserer Garnisonsstädte.« Victoria lächelte ein bißchen. »Oder Mrs. Peabody über ihre Gesundheit, oder Mrs. Kilbride über den Zustand der Baumwollindustrie auf den amerikanischen Plantagen, oder Major Drissell über den indischen Aufstand.« Ihre Begeisterung wuchs, als sie Callandras Zwanglosigkeit spürte. »Bei jedem Besuch bekommen wir das Massaker von Amritsar erzählt. Ich bekam es schon beim Abendessen zum Fisch gereicht und dann gleich noch mal zum Sorbet.«
    »Einige Leute kennen einfach kein Maß und Ziel.« Callandra erwiderte ihre Offenheit mit Offenheit. »Ihr Lieblingsthema neigt dazu, mit ihnen durchzugehen wie ein Pferd.«
    Victoria lachte; der Vergleich schien sie zu amüsieren.
    »Entschuldigen Sie.« Ein nett aussehender junger Mann von vielleicht einundzwanzig, zweiundzwanzig Jahren, trat kleinlaut hinzu, ein kleines Spitzentüchlein in der Hand. Fast ohne Callandra zu beachten, sah er Victoria an; Arthur hatte er offensichtlich gar nicht gesehen. Er hielt ihr das Stückchen spitzenbesetzten Batists entgegen. »Ich könnte mir denken, daß Sie das verloren haben, Madam. Entschuldigen Sie, daß ich mir die Vertraulichkeit herausnehme, es Ihnen zurückzugeben.« Sie lächelte. »Aber es gibt mir eine Gelegenheit, mich vorzustellen. Gestatten, Robert Oliver.«
    Victorias Wangen wurden blaß; dann lief sie rot an. Ein Dutzend Gefühle jagten über ihr Gesicht: Freude, wilde Hoffnung und nach der bitteren Erinnerung schließlich die Einsicht.
    »Ich danke Ihnen«, sagte sie mit dünner, verkniffener Stimme.
    »Aber zu meinem Bedauern ist es nicht das meine. Es muß einer anderen… einer anderen Dame gehören.«
    Er starrte sie an, forschte in ihren Augen nach einem Zeichen, ob er damit wirklich entlassen war.
    Callandra sehnte sich danach einzugreifen, aber sie wußte, sie würde den Jammer nur in die Länge ziehen. Etwas in Victorias Gesicht hatte Robert Oliver angezogen: Intelligenz, Phantasie, Schutzlosigkeit. Vielleicht hatte er sogar gesehen, was sie hätte sein können. Er konnte nichts von der Wunde in ihrem Körper wissen, die es ihr unmöglich machte, ihm zu geben, was er ganz natürlich suchen würde.
    Ohne es zu wollen, hörte sich Callandra sagen: »Wie aufmerksam von Ihnen, Mr. Oliver. Ich bin sicher, Miss Stanhope ist Ihnen sehr verbunden, aber das wird der tatsächlichen Besitzerin des Tüchleins zweifelsohne nicht anders gehen.« Sie war überzeugt davon, daß Robert Oliver nicht die Absicht hatte weiterzusuchen. Er hatte das Stück Stoff gefunden und als ebenso eleganten wie schlichten Vorwand benutzt. Er hatte keine Verwendung mehr dafür.
    Zum erstenmal sah er sie richtig an. Er versuchte zu beurteilen, wer sie war und welche Rolle ihre Ansicht spielte. Er sah etwas von dem Kummer in ihr und wußte, er war echt, auch wenn er den Grund nicht kannte. Sein schmales und ernstes junges Gesicht war völlig verwirrt.
    Callandra spürte einen glühenden Zorn in sich aufsteigen. Sie haßte den Arzt, der das verbrochen hatte. Es war eine Schändlichkeit, Geld mit den Nöten und Ängsten seiner Mitmenschen zu verdienen. Es war schon Tragödie genug, daß auch korrekte Operationen nicht immer gut verliefen.
    Bitte, bitte Gott, gib, daß es nicht

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