Im Schatten der Gerechtigkeit
Kristian war! Der Gedanke war so schrecklich, daß er wie ein Schlag in den Magen wirkte und ihr die Luft nahm.
Wollte sie wirklich wissen, ob er es gewesen war? Würde sie sich nicht lieber an das klammern, was sie kannte: seine Freundlichkeit, sein Lachen, selbst den Schmerz, ihn nicht berühren zu können, zu wissen, daß sie nie mehr haben könnte als das? Aber könnte sie in dieser Ungewißheit weiterleben? Würde nicht die schreckliche schleichende Angst, er könnte doch schuldig sein, alles verderben? Robert Oliver starrte sie immer noch an.
Sie zwang sich, ihn anzulächeln. »Miss Stanhope und ich waren eben dabei, eine kleine Erfrischung einzunehmen, und dann wollte sie mir einige Blumen zeigen, die ihr Gärtner selbst gezüchtet hat. Ich bin sicher, Sie entschuldigen uns?« Sachte nahm sie das Mädchen am Arm. Victoria, blaß und mit bebender Unterlippe, zögerte nur einen Augenblick, dann kam sie mit. Schweigend gingen sie nebeneinanderher. Victoria fragte Callandra weder, warum sie das getan hatte, noch was sie wußte.
In der Dorfkirche von Hanwell fand ein Gedenkgottesdienst für Prudence Barrymore statt, und Monk wohnte ihm bei. Er betrachtete es als Teil seiner Pflicht Callandra gegenüber, war aber auch wegen des zunehmenden Respekts gekommen, den er für die Tote empfand; er empfand es als großen Verlust, daß jemand so Lebendiges und Wertvolles nicht mehr war. Einer förmlichen Anerkenntnis dieses Verlustes beizuwohnen war eine Art, diese Lücke wenn schon nicht zu füllen, so doch zu überbrücken.
Es war eine stille Andacht, aber die Kirche war bis auf den letzten Platz gefüllt. Wie es schien, waren viele aus London gekommen, um ihren Respekt zu bezeigen und der Familie zu kondolieren. Monk sah wenigstens zwanzig Männer, die früher Soldaten gewesen sein mußten, einige mit amputierten Gliedmaßen, auf Krücken gelehnt oder mit leeren Ärmeln. Viele andere hatten Gesichter, die eigentlich hätten jung aussehen müssen, aber Spuren vorzeitigen Verschleißes und unauslöschlicher Erinnerungen zeigten. Auch sie hielt er für Soldaten.
Mrs. Barrymore war ganz in Schwarz, aber ihr Gesicht glühte vor Energie, während sie ein Auge auf alles hatte, Leute begrüßte und mit einer Art liebenswürdiger Verwirrung Beileidsbezeugungen von Fremden entgegennahm. Sie war ganz offensichtlich erstaunt, daß so viele Leute einen so tiefen Respekt für ihre Tochter gehabt haben sollten, die für sie nur eine schwere Prüfung und letztlich eine Enttäuschung gewesen war.
Ihr Gatte sah weit eher aus, als hätte er Mühe, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten, aber er strahlte eine ungeheure Würde aus. Schweigend stand er da und nickte den Leuten zu, die an ihm vorbeikamen, um ihrem Kummer Ausdruck zu geben, ihrer Bewunderung oder ihrer Schuld gegenüber dem Mut und der Hingabe seiner Tochter. Er war so stolz auf sie, daß er den Kopf hoch trug und das Kreuz durchdrückte, als wäre er wenigstens für diesen einen Tag selbst ein Soldat. Aber sein Schmerz war zu tief, als daß er anders als stockend hätte antworten können, und so brachte er sich nicht unnötig in Verlegenheit und beschränkte sich auf die wenigen Worte, die ein Mindestmaß an Höflichkeit ihm gebot.
Man hatte ihr zu Ehren Blumen, Kränze und Girlanden aus Sommerblumen ausgelegt. Monk hatte selbst welche mitgebracht: ein Gebinde aus voll erblühten Sommerrosen, die er zu den anderen gelegt hatte. Er sah auch eines aus Wildblumen, das klein und diskret zwischen den anderen lag, und mußte an die Blumen auf dem Schlachtfeld denken. Er sah sich die Karte an. Darauf stand schlicht: »Meiner Kameradin in Liebe, Hester.«
Einen Augenblick lang spürte er eine lächerliche Gefühlsaufwallung, die ihn zwang, blinzelnd den Kopf aus den Blumen zu nehmen und einige Male kräftig die Nase hochzuziehen. Er wandte sich ab, aber nicht ohne vorher noch einen Kranz aus schlichten Gänseblümchen zu bemerken; auf der Karte stand: »Ruhe in Frieden, Florence Nightingale.«
Monk stellte sich etwas abseits, da er nicht angesprochen werden wollte. Er vernachlässigte seine Pflicht. Er war schließlich hier, um zu beobachten, nicht um zu trauern, aber die Gefühle, die in ihm aufwallten, ließen sich einfach nicht leugnen. Er verspürte keine Neugierde und, in diesem Augenblick, auch keinerlei Zorn; nur Kummer. Die langsame traurige Orgelmusik erfüllte das uralte Gemäuer der Kirche, die sich über den kleinen Gestalten wölbte, die ganz in Schwarz und mit
Weitere Kostenlose Bücher