Im Schatten der Gerechtigkeit
Er hörte sich überrascht an.
»Allerdings!«
»Na schön. Sowohl Geoffrey Taunton als auch Nanette Cuthbertson hatten eine ausgezeichnete Gelegenheit«, berichtete er und richtete sich auf wie ein Soldat beim Rapport; aber er lächelte. »Er war an jenem Morgen im Krankenhaus, um mit Prudence zu sprechen, und hat sich nach eigenen Angaben mit ihr gestritten.«
»Sie wurde nach dem Streit noch lebend gesehen«, unterbrach sie ihn.
»Das weiß ich! Aber es gibt keinen Beweis dafür, wann er das Krankenhaus wieder verlassen hat. Er hat den nächsten Zug nicht erwischt. Ja, er ist sogar erst gegen Mittag wieder nach Hause gekommen und kann nicht beweisen, wo er gewesen ist. Meinen Sie, ich würde mir die Mühe machen, das zu erwähnen, wenn er das könnte?«
Sie zuckte die Achseln. »Erzählen Sie weiter.«
»Und Miss Cuthbertson war an jenem Morgen ebenfalls in der Stadt. Sie war die ganze Nacht über hier gewesen, weil sie zu einem Ball bei Mrs. Waldemar am Regent Square eingeladen war – nur zwei Straßen vom Krankenhaus.« Er sah sie an, während er sprach. »Und merkwürdigerweise stand sie, nachdem sie die Nacht durchgetanzt hatte, schon so früh auf, daß sie nicht zum Frühstück anwesend war. Sie behauptete, frische Luft schnappen gewesen zu sein. Aber dafür gibt es keinen Beweis. Keiner hat sie gesehen. Und zum Frühstück war sie nicht da.«
»Und sie hatte mit ihrer Eifersucht ein ausgezeichnetes Motiv«, pflichtete Hester ihm bei. »Aber wäre sie denn stark genug?«
»O ja«, sagte er, ohne zu zögern. »Sie ist eine ausgezeichnete Reiterin. Ich habe sie neulich ein Pferd zügeln sehen, dem selbst ein Mann kaum Herr geworden wäre. Sie hat die Kraft, vor allem wenn sie sie überrascht hat.«
»Und ich nehme an, sie könnte gut als Schwester durchgegangen sein, wenn sie schlicht genug angezogen war«, sagte sie nachdenklich. »Aber Beweise gibt es dafür nicht!«
»Ich weiß!« Seine Stimme wurde scharf und laut. »Wenn es einen gäbe, wäre ich damit zu Jeavis gegangen!«
»Sonst noch was?«
»Jedenfalls keinen Anhaltspunkt.«
»Dann nehme ich an, wir machen uns besser wieder an die Arbeit und geben uns etwas mehr Mühe.« Sie stand auf. »Ich werde mal probieren, ob ich nicht noch etwas mehr über einige der Verwaltungsräte herausbekommen kann. Und Sir Herbert und Dr. Beck.«
Er beeilte sich, zwischen sie und die Tür zu kommen; sein Gesicht mit einemmal völlig ernst, fixierte er sie. »Seien Sie vorsichtig, Hester! Jemand hat Prudence Barrymore umgebracht – und es war weder ein Kampf noch ein Unfall. Der Betreffende wird Sie nicht weniger rasch beseitigen, wenn er einen Grund zu haben glaubt.«
»Natürlich werde ich vorsichtig sein«, sagte sie und geriet gleich wieder in Hitze. »Ich stelle keine Fragen, ich beobachte nur.«
»Schon möglich«, räumte er zweifelnd ein.
»Was wollen Sie denn tun?«
»Mir die Herren Studenten vornehmen.«
»Sagen Sie mir, wenn ich Ihnen dabei irgendwie helfen kann. Vielleicht kann ich ja was über sie erfahren.« Er stand dicht vor ihr, hörte ihr zu, musterte ihr Gesicht. »Bisher scheinen sie mir sehr gewöhnlich: überarbeitet, erpicht darauf zu lernen, arrogant gegenüber dem weiblichen Personal und voll blöder Witze, um ihren Kummer wettzumachen, von ihren eigenen Unzulänglichkeiten ganz zu schweigen. Und dann immer arm und nicht selten hungrig und müde. Sie reißen böse Witze über Sir Herbert, aber sie bewundern ihn ganz gewaltig.«
»Sie auch?« Mit einemmal schien er interessierter als zuvor.
»Ja«, antwortete sie überrascht. »Ja. Ich denke schon, jetzt.«
»Seien Sie vorsichtig!« sagte er noch einmal mit zunehmender Dringlichkeit.
»Das haben Sie schon gesagt, und ich habe es versprochen. Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen.«
Am folgenden Tag hatte sie mehrere Stunden frei und nutzte diese, um zwei Leute zu besuchen, mit denen sie eine solide Freundschaft verband. Der eine war Major Horatio Tiplady, obwohl der »Horatio« ein Geheimnis zwischen ihnen beiden war, das zu hüten sie ihm hatte versprechen müssen. Sie hatte ihn nach einem schlimmen Beinbruch gepflegt, den er sich zugezogen hatte, während sie in den Fall Carlyon verwickelt war, und sie hatte eine ungewöhnliche Zuneigung zu ihm gefaßt. Es kam nicht oft vor, daß sie mehr als Respekt und Verantwortung für ihre Patienten empfand; zwischen dem Major und ihr jedoch hatte sich eine echte Freundschaft entwickelt.
Edith Sobell dagegen hatte sie bereits vor dem
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