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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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dem alles von der Geschicklichkeit seiner Finger abhing; Rathbone war ganz auf seine Menschenkenntnis, seine Vertrautheit mit dem Gesetz, sowie die Behendigkeit von Verstand und Zunge gestellt.
    War er unschuldig oder schuldig?
    »Guten Tag, Mr. Rathbone«, sagte Sir Herbert schließlich mit einer kleinen Neigung des Kopfes, bot ihm jedoch nicht die Hand. Er trug seine eigene Kleidung. Da er sich noch nicht vor Gericht verantwortet hatte, war er dem Gesetz nach unschuldig. Man hatte ihn mit Respekt zu behandeln, selbst hier im Gefängnis.
    »Guten Tag, Sir Herbert«, antwortete Rathbone und trat an den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches. »Bitte, setzen Sie sich doch. Unsere Zeit ist kostbar, also werde ich sie nicht mit Artigkeiten vergeuden, die wir wohl beide voraussetzen können.«
    Sir Herbert lächelte düster und kam der Aufforderung nach.
    »Es ist wahrlich kein Höflichkeitsbesuch«, pflichtete er ihm bei.
    »Ich nehme an, Sie haben sich mit der Darstellung der Sachlage durch die Staatsanwaltschaft vertraut gemacht?«
    »Selbstverständlich.« Er setzte sich auf den schlichten Stuhl und beugte sich etwas über den Tisch. »Sie hat einen guten Fall, der jedoch keineswegs hieb und stichfest ist. Bei den Geschworenen einen berechtigten Zweifel zu erwecken, wird nicht allzu schwer sein. Aber ich möchte doch mehr tun als das, da sonst Ihr Ruf nicht zu retten ist.«
    »Natürlich.« Ein Ausdruck trockener, bitterer Belustigung legte sich über Sir Herberts breites Gesicht. Es beeindruckte Rathbone, daß er bereit war zu kämpfen, anstatt im Selbstmitleid zu versinken, wie ein geringerer Charakter das getan hätte. Er sah weder gut aus, noch war er besonders charmant, aber er verfügte offensichtlich über einen hohen Grad an Intelligenz sowie die Willenskraft und Nervenstärke, die ihn an die Spitze seines Berufsstandes gebracht hatten. Er war es gewohnt, das Leben anderer in Händen zu haben und rasche Entscheidungen zu treffen, von denen Leben und Tod abhingen. Rathbone konnte gar nicht anders, als ihm seinen Respekt zu zollen, ein Gefühl, das er seinen Mandanten beileibe nicht immer entgegenbrachte.
    »Ihr Rechtsbeistand hat mich bereits informiert, daß Sie den Mord an Prudence Barrymore kategorisch bestreiten«, fuhr er fort. »Darf ich davon ausgehen, daß Sie mir dasselbe versichern? Und denken Sie daran, ich muß Sie nach besten Kräften verteidigen, ungeachtet der Umstände, aber mich zu. belügen wäre ausgesprochen töricht, da es mich in meiner Arbeit behindern würde. Ich muß alle Fakten kennen, um Sie gegen die Auslegung durch den Staatsanwalt verteidigen zu können.« Er beobachtete Sir Herbert genau, vermochte jedoch nicht das geringste zu entdecken, weder ein nervöses Zucken noch ein Schwanken in seiner Stimme.
    »Ich habe Schwester Barrymore nicht ermordet«, antwortete er, »und ich weiß nicht, wer es gewesen ist, obwohl ich mir einiges dazu vorstellen könnte – wissen jedoch tue ich nichts. Fragen Sie mich, was immer Sie wollen.«
    Rathbone lehnte sich etwas zurück, ohne es sich auf dem hölzernen Stuhl bequem machen zu können. Ruhigen Auges musterte er den Arzt. »Mittel und Gelegenheit sind hier ohne Bedeutung. Eine ganze Reihe von Leuten hatten beides. Ich gehe davon aus, daß Sie sich bereits den Kopf darüber zerbrochen haben, ob es nicht jemanden gibt, der bestätigen könnte, wo Sie an jenem Morgen waren, und daß es niemanden gibt? Nicht? Das habe ich mir gedacht, sonst hätten Sie es der Polizei wohl gesagt und wir wären nicht hier.«
    Der Anflug eines Lächelns brachte Sir Herberts Augen zum Leuchten, aber er sagte nichts.
    »Bliebe also nur das Motiv«, fuhr Rathbone fort. »Die Briefe, die Miss Barrymore ihrer Schwester geschrieben hat und die sich jetzt im Besitz der Staatsanwaltschaft befinden, lassen kaum einen anderen Schluß zu, als den einer romantischen Verbindung zwischen Ihnen und ihr. Als ihr klar wurde, daß daraus nichts werden würde, wurde sie Ihnen lästig, drohte Ihnen auf die eine oder andere Weise, und um einen Skandal zu vermeiden, haben Sie sie ermordet. Ich akzeptiere, daß Sie sie nicht ermordet haben. Aber hatten Sie eine Affäre mit ihr?«
    Sir Herberts schmale Lippen verzogen sich. »Absolut nicht! Der Gedanke ist so weit von der Wahrheit, daß er geradezu amüsant wäre, brächte er mich nicht in Todesgefahr. Nein, Mr. Rathbone. Ich habe Miss Barrymore noch nicht einmal unter diesem Gesichtspunkt betrachtet!« Seine Überraschtheit schien

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