Im Schatten der Gerechtigkeit
etwas fragwürdig. »Weder sie noch eine andere Frau außer der meinen! Was sich angesichts der Moral der meisten Männer unwahrscheinlich anhören mag.« Er hob die Achseln, eine belustigte und doch flehentliche Geste. »Aber ich habe all meine Energie und Leidenschaft in meinen Beruf gesteckt.«
Seine Augen ruhten aufmerksam auf Rathbones Gesicht. Er hatte die Gabe, sich auf sein Gegenüber zu konzentrieren, als wäre der Betreffende in diesem Augenblick das einzig Wichtige für ihn, seine Aufmerksamkeit war absolut. Rathbone war sich der Kraft seiner Persönlichkeit in hohem Maße bewußt. Aber er war der Überzeugung, seine Leidenschaftlichkeit war rein geistiger Art. Er hatte nicht das Gesicht eines Genußmenschen. Rathbone sah keinerlei Schwäche darin, nicht die Spur eines ungezügelten Verlangens. »Ich habe eine treu ergebene Frau, Mr. Rathbone«, fuhr Sir Herbert fort. »Und sieben Kinder. Mein häusliches Leben genügt mir vollauf. Der menschliche Körper fasziniert mich in hohem Maße, seine Anatomie, seine Physiologie, seine Krankheiten und deren Heilung. Es gelüstet mich nicht nach Krankenschwestern.« Wieder der belustigte Ausdruck, wenn auch nur kurz. »Und um ganz offen zu sein, wenn Sie Schwester Barrymore gekannt hätten, hätten Sie das auch nicht angenommen. Sie war ganz ansehnlich, sicher, aber unbeugsam, ehrgeizig und völlig unweiblich.«
Rathbone schürzte kaum merklich die Lippen. Er konnte das Thema nicht fallenlassen; seine persönliche Überzeugung spielte hier keine Rolle. »Unweiblich in welcher Hinsicht, Sir Herbert? Den Aussagen anderer zufolge muß ich annehmen, daß sie durchaus Verehrer hatte. Es gab sogar einen, der ihr so ergeben war, daß er ihr über Jahre hinweg den Hof machte, und das, obwohl sie ihn immer wieder abgewiesen hat.«
Sir Herberts dünne, helle Brauen hoben sich. »Tatsächlich? Das überrascht mich. Aber um Ihre Frage zu beantworten, sie war launisch, unangenehm offen und, was gewisse Themen anbelangt, dogmatisch. Und an Heim und Familie nicht im geringsten interessiert. Sie gab sich wenig Mühe, sich attraktiv zu machen.« Er beugte sich vor. »Ich bitte Sie, das richtig zu verstehen, das ist beileibe keine Kritik!« Er schüttelte den Kopf.
»Ich habe kein Interesse daran, daß meine Schwestern mit mir flirten, weder mit mir noch mit anderen. Sie haben sich um die Kranken zu kümmern, Anweisungen zu befolgen und, was Moral und Nüchternheit betrifft, einen halbwegs akzeptablen Standard zu wahren. Prudence Barrymore war weitaus besser. Sie war enthaltsam im körperlichen Sinne, völlig nüchtern, pünktlich und fleißig, zuweilen sogar begnadet. Ich kann wohl ruhigen Gewissens sagen, daß sie die beste Krankenschwester war, die ich je gekannt habe. Und ich hatte mit Hunderten zu tun.«
»Also eine durch und durch anständige, wenn auch etwas strenge junge Frau«, faßte Rathbone zusammen.
»Absolut«, pflichtete Sir Herbert ihm bei und lehnte sich wieder zurück. »Ganz und gar nicht die Art Frau, mit der man flirtet, wenn man dazu neigt, was bei mir nicht der Fall ist.« Er lächelte wehmütig. »Aber glauben Sie mir, Mr. Rathbone, selbst wenn dem so wäre, ich hätte nie und nimmer diesen Ort gewählt, meinen Arbeitsplatz, der mir wichtiger ist als alles andere in meinem Leben. Ich hätte ihn nie einer so trivialen Befriedigung wegen aufs Spiel gesetzt.«
Woran Rathbone keinen Augenblick zweifelte. Er hatte seine ganze Laufbahn damit verbracht zu beurteilen, ob jemand log, und hatte sich damit einen großartigen Ruf geschaffen. Es gab gut zwei Dutzend winzige Hinweise, auf die man zu achten hatte, und hier sah er keinen davon.
»Wie erklären Sie sich dann ihre Briefe?« fragte er vernünftig und ruhig. Er änderte seinen Ton nicht im geringsten; es war nichts weiter als eine Frage, auf die er eine glaubwürdige Antwort erwartete.
Sir Herbert nahm einen reumütigen Ausdruck an, fast als wolle er sich entschuldigen. »Das Ganze ist mir ausgesprochen peinlich, Mr. Rathbone. Ich sage das nur ungern, steht einem Gentleman derlei doch schlecht zu Gesicht.« Er atmete tief ein und stieß die Luft mit einem Seufzer aus. »Ich… mir ist in der Vergangenheit zu Ohren gekommen, daß sich junge Frauen, darf ich sagen… in Männer mit einem gewissen Bekanntheitsgrad verliebt haben.« Er sah Rathbone neugierig an.
»Höchstwahrscheinlich haben Sie diese Erfahrung selbst schon gemacht? Eine junge Frau, der Sie geholfen haben – oder ihrer Familie. Daß sich
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