Im Schatten der Gerechtigkeit
sicher nicht! Und dennoch genoß er ihre Gesellschaft merkwürdigerweise mehr als die einer jeden anderen und mußte feststellen, daß ihm an ihren Ansichten über ihn nicht weniger lag als an ihren Gefühlen. Seine Gedanken wandten sich ihr öfter zu, als er sich das hinlänglich zu erklären vermochte, was er beunruhigend, aber nicht unangenehm fand.
Was nun ihre Gefühle für ihn anbelangte, so hatte sie nicht die geringste Absicht, ihn diese jemals wissen zu lassen. Zuweilen verstörten sie sie geradezu – zum Beispiel damals, vor einem Jahr, als er sie so unvermutet und zärtlich geküßt hatte. Die Zeit, die sie zusammen mit seinem Vater, Henry Rathbone, den Hester sehr sympathisch fand, in Primrose Hill verbracht hatte, war ihr in angenehmer Erinnerung geblieben. Nie würde sie die Verbundenheit vergessen, die sie bei ihren abendlichen Spaziergängen im Garten empfunden hatte, die Düfte des Sommers im Wind – gemähtes Gras und Geißblatt –, die Apfelbäume jenseits der Hecke dunkle Schemen vor den Sternen.
Und dennoch war da, ganz hinten in ihren Gedanken, immer noch Monk. Monks Gesicht drängte sich in ihre Gedanken, seine Stimme, die Worte, die er in stillen Augenblicken zu ihr sprach.
Rathbone war nicht im geringsten überrascht über den Besuch von Sir Herberts Anwälten. Es verstand sich von selbst, daß ein Mann seines Standes den besten Strafverteidiger wollte, und das war für viele ohne Zweifel Oliver Rathbone.
Er las sämtliche Papiere und dachte die Angelegenheit sorgfältig durch. Die Beweise gegen Sir Herbert waren überzeugend, aber keinesfalls hieb und stichfest. Er hatte Gelegenheit gehabt, sicher, aber das galt auch für wenigstens zwanzig andere. Er hatte die Mittel gehabt, wie jeder andere auch mit der nötigen Kraft in den Händen; sah man sich die Krankenschwestern an, so galt das für so gut wie alle. Der einzige Hinweis auf ein Motiv waren die Briefe, die Prudence Barrymore ihrer Schwester geschickt hatte – sie freilich stellten unbestreitbar schwerwiegendes Belastungsmaterial dar.
Vor dem Gesetz reichten bereits begründete Zweifel seitens der Geschworenen für einen Freispruch und damit für die Rettung vor dem Galgen. Um freilich Sir Herberts Ruf und Ehre zu retten, durfte es überhaupt keinen Zweifel geben. Das bedeutete nichts anderes, als daß Rathbone der Öffentlichkeit einen anderen Verdächtigen anbieten mußte. Letztlich war sie die Jury, auf die es ankam.
Aber zunächst einmal galt es einen Freispruch vor Gericht zu erlangen. Er las die Briefe noch mal. Sie schrien nach einer Erklärung, einer alternativen Auslegung, die sowohl harmlos als auch glaubhaft war. Dazu mußte er mit Sir Herbert persönlich sprechen.
Es war ein weiterer heißer Tag, schwül und bedeckt. Er ging grundsätzlich nicht gern ins Gefängnis, aber bei dieser dumpfen, drückenden Hitze war es noch unangenehmer als sonst: der Gestank der verstopften Abflüsse, die geschlossenen Räume mit den erschöpften Menschen, die Angst, die langsam, aber sicher zur Verzweiflung wurde. Er konnte sogar die Steine riechen, als sich die Tür mit einem harten metallischen Schlag hinter ihm schloß und der Wärter ihn in den Raum führte, wo er mit Sir Herbert Stanhope sprechen konnte.
Hier gab es nichts außer nacktem grauen Stein und einem schlichten Holztisch in der Mitte, zu dessen Seiten zwei Stühle standen. Ein einziges hochgelegenes Fenster, mit einem Eisengitter versehen, ließ etwas Licht herein; selbst der größte Mann hätte hier nicht hinausschauen können.
Der Wärter wandte sich an Rathbone. »Rufen Sie mich, wenn Sie wieder rauswollen, Sir.« Damit drehte er sich um und ließ Rathbone mit Sir Herbert Stanhope allein.
Trotz der Tatsache, daß beide Männer prominent waren, waren sie sich noch nie begegnet, und so musterten sie einander interessiert. Für Sir Herbert ging es um Leben oder Tod. Oliver Rathbones Fertigkeiten waren das einzige Schild zwischen ihm und der Schlinge. Sir Herberts Augen wurden schmal; konzentriert schätzte er das Gesicht seines Gegenübers ab, die breite Stirn, die neugierigen, für einen so hellen Typ ungewöhnlich dunklen Augen, die lange, sensible Nase und den hübschen Mund.
Rathbone musterte seinerseits sorgfältig Sir Herbert. Er sollte diesen Mann schließlich verteidigen, eine Berühmtheit, wenigstens in der Welt der Medizin. Es war eine schreckliche Verantwortung, das Leben eines Menschen in der Hand zu haben, und das nicht etwa wie bei Sir Herbert, bei
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