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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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geringerer Mann wäre womöglich ungeduldig geworden. Lovat-Smith war dafür viel zu klug. Sie hatte die Sympathien des Gerichts, man war der Ansicht, daß ein solches Erlebnis jede sensible Frau in Schrecken versetzt hätte. Die Geschworenen waren selbstverständlich allesamt Männer. Wenn man Frauen nicht genug rationales Urteilsvermögen zutraute, um in der Masse zur Urne zu gehen, wie sollten sie dann in einem Zwölfer-Gremium über Leben und Tod eines Menschen entscheiden? Und Lovat-Smith wußte, Geschworene waren ganz gewöhnliche Männer. Was sowohl ihre Stärke als auch ihre Schwäche war. Sie würden Callandra für eine durchschnittliche Frau halten, leicht zu beeindrucken und zart – wie eben Frauen so sind. Sie hatten keine Ahnung, daß sie über weit mehr Verstand und Kraft verfügte als die meisten der Soldaten, die ihr Gatte behandelt hatte, als er noch am Leben gewesen war. Lovat-Smith gab sich entsprechend zartfühlend und höflich.
    »Ich bedaure, Sie darum bitten zu müssen, aber würden Sie dem Gericht schildern, was daraufhin passierte, mit eigenen Worten. Lassen Sie sich Zeit…«
    Der Anflug eines Lächelns umspielte Callandras Mund. »Sie sind ausgesprochen höflich, Sir. Selbstverständlich werde ich es Ihnen erzählen. Dr. Beck spähte in den Schacht, um zu sehen, was ihn blockierte, konnte aber nichts entdecken. Wir schickten eine der Schwestern nach einem Fensterhaken, um damit in den Schacht zu stoßen und freizubekommen, was immer dort festsaß. Zu diesem Zeitpunkt…«, sie schluckte schwer und fuhr dann mit gedämpfter Stimme fort, »gingen wir davon aus, daß es sich um ein Lakenbündel handelte. Selbstverständlich war da mit dem Fensterhaken nichts zu erreichen.«
    »Selbstverständlich«, sagte Lovat-Smith hilfreich. »Was haben Sie daraufhin unternommen, Madam?«
    »Eine der Schwestern, ich weiß nicht mehr welche, schlug vor, eines der Putzmädchen zu holen, ein Kind noch und ziemlich klein. Es sollte in den Schacht steigen.«
    »Sie wollten ein Kind da hinunterschicken?« sagte Lovat-Smith besonders deutlich. »Zu diesem Zeitpunkt waren Sie also immer noch in dem Glauben, daß Wäsche den Schacht verstopfte?«
    Ein ahnungsvoller Schauder ging durch den Raum. Rathbone zog ein Gesicht, aber so diskret, daß die Geschworenen es nicht sehen konnten. Sir Herbert saß mit ausdrucksloser Miene auf der Anklagebank. Richter Hardie trommelte mit den Fingern lautlos auf die Platte des Richtertischs.
    Lovat-Smith sah es und verstand. Er forderte Callandra auf fortzufahren.
    »Selbstverständlich«, sagte sie ruhig. »Was ist denn passiert?«
    »Dr. Beck und ich sind in die Waschküche gegangen, um das Bündel in Empfang zu nehmen.«
    »Warum?«
    »Wie bitte?«
    »Warum sind Sie in den Keller gegangen, Madam?«
    »Ich… das weiß ich nicht mehr. Es schien damals das Gegebene. Ich nehme an, um festzustellen, was es war, damit der Streit geschlichtet würde. Deshalb haben wir uns ja überhaupt erst eingemischt, um den Streit zu schlichten.«
    »Ach so. Ja, scheint mir ganz natürlich. Würden Sie dem Gericht bitte schildern, was dann geschah?«
    Callandra war ausgesprochen blaß; sie schien Mühe zu haben, die Kontrolle zu bewahren. Lovat-Smith lächelte sie ermutigend an.
    »Wenige Augenblicke später hörten wir ein Geräusch…«
    Sie atmete tief ein, sah Lovat-Smith jedoch nicht an. »Und ein Körper kam aus dem Schacht und landete im Wäschekorb darunter.«
    Das unmittelbar folgende Geraschel und das entsetzte Raunen im Publikum hinderte sie daran weiterzusprechen. Einige der Geschworenen hielten den Atem an, einer griff gar nach seinem Taschentuch.
    Sir Herbert, auf der Anklagebank, zuckte leicht zusammen, ließ Callandra jedoch nicht aus den Augen.
    »Zuerst dachte ich, es sei das Putzmädchen«, fuhr sie fort.
    »Dann, einen Augenblick später, landete ein zweiter Körper und versuchte sofort aus dem Korb zu krabbeln. Wir halfen ihr, fast mußten wir sie herausheben. Erst dann sahen wir uns den ersten Körper näher an. Wir erkannten sehr schnell, daß es sich um eine Leiche handelte.«
    Wieder das kollektive Luftholen im Saal, dann ein Raunen, das sich jedoch sofort wieder legte.
    Rathbone sah zur Anklagebank hinauf. Selbst ein Gesichtsausdruck konnte eine Rolle spielen. Er hatte es mehr als einmal erlebt, daß ein Gefangener durch schiere Unverschämtheit eine Jury gegen sich aufgebracht hatte. Aber er hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Sir Herbert war ernst und gesetzt,

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