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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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befand sich, in der Art einer Kanzel, der Zeugenstand. Um sie zu erreichen, mußte man den Saal durchqueren und eine gewundene Treppe hinaufsteigen; dann stand man da, allein, und sah sich den Anwälten und dem Publikum gegenüber. Hinter dem Zeugenstand und noch etwas höher saß, auf Plüsch und von einer Täfelung mit herrlichen Schnitzereien umgeben, der Richter, der scharlachroten Samt und eine gelockte Perücke aus weißem Roßhaar trug.
    Der Saal war bereits zur Ordnung gerufen. Die Geschworenen waren vereidigt, die Anklage verlesen, und der Angeklagte hatte sich dazu geäußert. Mit ungeheurer Würde, erhobenen Hauptes und mit fester Stimme hatte Sir Herbert seine Schuld kategorisch bestritten. Sofort darauf ging ein mitfühlendes Raunen durch den Saal.
    Der Richter, ein Mann Ende Vierzig mit strahlenden hellgrauen Augen und einem feinknochigen, hohlwangigen Gesicht, ließ seinen Blick durch den Saal schweifen, hielt sich jedoch zurück. Er war ein harter Mann, jung für ein so hohes Amt, aber er war niemandem etwas schuldig, und sein einziges Interesse galt dem Gesetz. Vor Unbarmherzigkeit schützte ihn ein ausgeprägter Sinn für Humor, sympathisch machte ihn seine Liebe zu den Klassikern und deren hochfliegender Vorstellungskraft, die er zwar kaum verstand, aber nichtsdestoweniger für unschätzbar wertvoll hielt.
    Die Anklage vertrat Wilberforce Lovat-Smith, einer der begabtesten Staatsanwälte seiner Generation und ein Mann, den Rathbone sehr gut kannte. Er hatte ihm schon häufig vor Gericht gegenübergestanden, und mochte er ihn auch ganz und gar nicht leiden, so hatte er doch die größte Hochachtung vor ihm. Er war von kaum durchschnittlicher Größe und dunklem Teint, sein Gesicht scharf geschnitten, die Lider schwer, die Augen darunter erstaunlich blau. Seine Erscheinung war wenig beeindruckend. Er sah eher nach einem Wandermusikus oder einem Spieler aus als nach einer Stütze der Gesellschaft. Seine Robe war etwas zu lang und von nachlässigem Schnitt, und seine Perücke saß nicht ganz gerade. Rathbone freilich machte nicht den Fehler, ihn deshalb zu unterschätzen.
    Die erste Zeugin war Lady Callandra Daviot. Kerzengerade und hoch erhobenen Hauptes durchquerte sie den freien Raum zwischen Bankreihen und Zeugenstand. Als sie die Treppe hinaufstieg, nahm sie jedoch den Handlauf zu Hilfe, und als sie sich Lovat-Smith zuwandte, sah ihr blasses Gesicht müde aus, als hätte sie seit Tagen, wenn nicht gar Wochen keine ruhige Nacht mehr gehabt. Es war deutlich zu sehen, daß sie krank war oder eine nahezu unerträgliche Bürde auf ihr lastete.
    Hester war nicht zugegen; sie hatte Dienst im Krankenhaus. Abgesehen von der Tatsache, daß sie die Anstellung brauchte, waren Monk und sie nach wie vor der Überzeugung, sie könnte dort etwas Nützliches in Erfahrung bringen. Die Chancen waren zwar gering, aber sie wollten nichts unversucht lassen.
    Monk saß in der Mitte der ersten Reihe und verfolgte aufmerksam jede Änderung des Tons, jeden Gesichtsausdruck. Er wäre zur Stelle, sollte es Rathbone einfallen, einen neuen Faden zu verfolgen, der sich plötzlich ergab. Er brauchte Callandra nur anzusehen, um zu wissen, daß da etwas nicht stimmte. Er starrte sie minutenlang an, bevor ihm klar wurde, was ihn an ihrer Erscheinung noch mehr beunruhigte als das ausgezehrte Gesicht: ihre Haare waren ordentlich, ja sogar hübsch zurechtgemacht. Was ihr so gar nicht ähnlich sah. Durch die Tatsache, daß sie vor Gericht aussagen mußte, war das nicht zu erklären. Er hatte sie bei weit wichtigeren und förmlicheren Anlässen gesehen, selbst in Abendgarderobe kurz vor dem Aufbruch zu Diners mit Botschaftern und Angehörigen des Königshauses, und trotzdem hatten sich ganze Strähnen nach Lust und Laune gekringelt. Der Anblick erfüllte ihn mit einem schwer erklärlichen Kummer.
    »Sie stritten sich darüber, daß offensichtlich der Wäscheschacht verstopft war?« fragte Lovat-Smith mit künstlichem Erstaunen. Obwohl jedermann wußte, was kam, herrschte im Saal völlige Stille. Die Zeitungen hatten es in riesigen Schlagzeilen verkündet, und es war kaum etwas, was man so leicht vergaß. Trotzdem lehnten sich die Geschworenen vor und lauschten konzentriert jedem Wort.
    Richter Hardie lächelte kaum merklich.
    »Ja.« Callandra bot kein Wort mehr als das, wonach man sie fragte.
    »Bitte, fahren Sie fort, Lady Callandra«, forderte Lovat-Smith sie auf. Sie war keine feindliche Zeugin, half aber auch nicht mit. Ein

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