Im Schatten der Gerechtigkeit
Prudence’ Bekannten und Kollegen, wie er nur konnte, aber sie sprachen nur widerstrebend mit ihm und waren voller Ressentiments. Die jungen Schwestern funkelten ihn abwehrend an und antworteten einsilbig, als er sie fragte, ob Prudence eine romantische Person gewesen sei.
»Nein.« Klarer ging es wohl nicht.
»Hat sie je davon gesprochen zu heiraten?«
»Nein. Ich habe nie etwas gehört.«
»Oder davon, die Krankenpflege aufzugeben und einen Hausstand zu gründen?« drängte er.
»O nein – niemals. Nie und nimmer. Sie liebte ihren Beruf.«
»Haben Sie sie je aufgeregt erlebt, erhitzt, extrem glücklich oder traurig, ohne daß ersichtlich gewesen wäre, warum?«
»Nein. Sie hatte sich immer im Griff. Sie war ganz und gar nicht so, wie Sie sagen.« Sie begleitete die Antwort mit einem trotzigen, verärgerten Blick.
»Neigte sie zu Übertreibungen?« fragte er, schier am Verzweifeln. »Hat sie ihre Leistungen überbewertet oder den Krimkrieg verherrlicht?«
Wenigstens zeitigte er eine Reaktion, wenn auch nicht die, die er sich erhofft hätte. »Nein, das hat sie nicht!« Das Gesicht der jungen Frau lief rot an vor Zorn. »Es ist bösartig, so etwas zu behaupten! Sie hat immer die Wahrheit gesagt. Und über die Krim hat sie überhaupt nicht gesprochen, außer um uns von Miss Nightingales Ideen zu erzählen. Eigenlob kannte sie nicht!
Und ich werde mir von Ihnen nicht das Gegenteil sagen lassen! Weder um den Mann zu verteidigen, der sie umgebracht hat, noch aus sonst einem Grund, das schwöre ich Ihnen!«
Es half ihm nicht im geringsten, und doch war er, so verdreht es auch klingen mochte, zufrieden. Er hatte eine lange, fruchtlose Woche hinter sich und kaum etwas gehört, was ihm von Nutzen war – im Grunde genau das, was er erwartet hatte. Aber niemand hatte sein Bild von Prudence zerstört. Er hatte nichts in Erfahrung gebracht, was sie zu der gefühlsbetonten Erpresserin gemacht hätte, die ihre Briefe vermuten ließen. Aber wie sah die Wahrheit aus?
Die letzte Person, mit der er sprach, war Lady Stanhope. Wie nicht anders zu erwarten, war es eine emotionsgeladene Begegnung. Sir Herberts Verhaftung war ein vernichtender Schlag gewesen. Sie mußte ihre ganze Kraft zusammennehmen, um einen Rest von Haltung zu wahren, schon um der Kinder willen, aber die Zeichen des Schocks, der Schlaflosigkeit und endloser Tränen standen ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Als man Monk ins Haus führte, hatte sie Arthur, ihren ältesten Sohn an ihrer Seite, auch sein Gesicht bleich, wenn er das Kinn auch herausfordernd hoch trug.
»Guten Tag, Mr. Monk«, sagte Lady Stanhope ruhig. Sie schien nicht so recht zu verstehen, wer er war und was er wollte. Sie blinzelte ihm erwartungsvoll entgegen. Sie saß auf einem mit Schnitzereien verzierten Stuhl und stand auch nicht auf, als Monk eintrat; Arthur stand direkt hinter ihr.
»Guten Tag, Lady Stanhope«, antwortete er. Er mußte vorsichtig vorgehen, Ungeduld würde hier zu nichts führen.
»Guten Tag, Mr. Stanhope«, fügte er, Arthurs Anwesenheit zur Kenntnis nehmend, hinzu.
Arthur nickte. »Bitte, setzen Sie sich, Mr. Monk«, forderte er ihn auf, um das Versäumnis seiner Mutter auszugleichen. »Was können wir für Sie tun, Sir? Wie Sie sich vorstellen können, empfängt meine Mutter niemanden, wenn es nicht unbedingt nötig ist. Die Situation ist ausgesprochen schwierig für uns.«
»Selbstverständlich«, räumte Monk ein und nahm auf dem Stuhl, den man ihm angeboten hatte, Platz. »Ich gehe Mr. Rathbone dabei zur Hand, die Verteidigung Ihres Herrn Vaters aufzubauen, wie ich Ihnen geschrieben zu haben glaube.«
»Seine Verteidigung ist seine Unschuld«, unterbrach Arthur ihn. »Die arme Frau gab sich ganz offensichtlich Illusionen hin. Was bei unverheirateten Frauen eines gewissen Alters wohl vorkommt, wie ich glaube. Sie reden sich etwas ein, leben in Tagträumen, Phantastereien über hervorragende Leute, Männer von Rang und Würde. Für gewöhnlich ist das nur traurig und etwas peinlich. In dieser Angelegenheit hat es sich obendrein als tragisch erwiesen.«
Nur mit Mühe unterdrückte Monk die Frage, die ihm auf der Zunge lag. Dachte der selbstgefällige junge Mann mit dem glatten Gesicht dabei an den Tod von Prudence Barrymore oder nur an die Anklage gegen seinen Vater?
»Das wenigstens ist unbestritten«, pflichtete er ihm bei.
»Schwester Barrymore ist tot, und Ihr Vater sitzt im Gefängnis, um sich in einem Mordprozeß zu verantworten.«
Lady Stanhope
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