Im Schatten der Gerechtigkeit
sein Gesicht zeigte nur Trauer.
»Ich verstehe.« Lovat-Smith hob die Hand, einige Zentimeter nur. »Woher wußten Sie, daß es sich bei diesem ersten Körper um eine Leiche handelte, Lady Callandra? Ich weiß, Sie verfügen über einige medizinische Erfahrung; Ihr verstorbener Gatte, glaube ich, war Stabsarzt. Würden Sie uns bitte schildern, wie dieser Körper aussah.« Er lächelte sie um Vergebung bittend an. »Ich entschuldige mich dafür, Sie zu bitten, noch einmal durchzumachen, was für Sie eine außerordentliche Qual gewesen sein muß, aber ich versichere Ihnen, es ist nötig, für die Geschworenen, Sie verstehen?«
»Es war die Leiche einer jungen Frau in einer Schwesterntracht«, sagte Callandra ruhig. »Sie lag auf dem Rücken im Korb, als wäre sie zusammengeklappt, ein Bein nach oben gestreckt. Niemand wäre so liegengeblieben, wenn er noch bei Bewußtsein gewesen wäre. Als wir sie näher ansahen, sahen wir, daß ihre Augen geschlossen und ihr Gesicht aschfahl war. Und sie hatte Quetschungen am Hals und war bereits kalt.«
Von den Publikumsrängen kam ein langer Seufzer; jemand zog die Nase hoch. Zwei der Geschworenen sahen einander an, ein dritter schüttelte mit ernster Miene den Kopf.
Rathbone saß reglos an seinem Tisch.
»Nur noch eine Frage, Lady Callandra«, sagte Lovat-Smith entschuldigend. »Kannten Sie die junge Frau?«
»Ja.« Callandra war kreidebleich. »Es war Prudence Barrymore.«
»Eine der Krankenschwestern des Hospitals?« Lovat-Smith trat einen Schritt zurück. »Ja, um genau zu sein, eine Ihrer besten Schwestern, glaube ich? Hat sie nicht mit Florence Nightingale im Krimkrieg gearbeitet?«
Rathbone erwägte schon Einspruch wegen Unerheblichkeit zu erheben: Lovat-Smith spielte Theater. Aber er hätte seiner Sache eher geschadet als genutzt, hätte er Prudence Barrymore diesen Augenblick posthumer Anerkennung zu verwehren versucht. Was Lovat-Smith sehr wohl wußte; er sah es an seiner etwas großspurigen Haltung – als stelle Rathbone keine Gefahr für ihn dar.
»In jeder Hinsicht eine gute Frau«, sagte Callandra ruhig. »Ich hatte größte Hochachtung vor ihr und mochte sie sehr.«
Lovat-Smith neigte den Kopf. »Ich danke Ihnen, Madam. Das Gericht weiß sehr wohl zu würdigen, daß es sich hier um eine schwierige Pflicht für Sie handelt. Ich danke Ihnen, ich habe keine weiteren Fragen an Sie.«
Richter Hardie beugte sich vor, als Callandra eine kleine Bewegung machte. »Wenn Sie bleiben würden, Lady Callandra, Mr. Rathbone möchte vielleicht noch das Wort an Sie richten.«
Callandra errötete über ihre eigene Dummheit, obwohl sie gar keine Anstalten gemacht hatte zu gehen.
Lovat-Smith kehrte an seinen Tisch zurück, und Rathbone stand auf, trat auf den Zeugenstand zu und blickte zu ihr hinauf.
Es beunruhigte ihn, sie so abgespannt zu sehen.
»Guten Morgen, Lady Callandra. Mein verehrter Herr Kollege hat mit Ihrer Identifikation der unglücklichen Toten geschlossen. Aber vielleicht würden Sie dem Gericht noch sagen, was Sie getan haben, nachdem Sie sich versichert hatten, daß ihr nicht mehr zu helfen war?«
»Ich… wir… Dr. Beck blieb bei ihr«, Callandra geriet etwas ins Stammeln, »um sicherzustellen, daß man sie nicht berührte, während ich losging, um die Angelegenheit Sir Herbert Stanhope zu melden, damit er nach der Polizei schicken konnte.«
»Wo haben Sie ihn gefunden?«
»Im Operationssaal – er operierte gerade.«
»Erinnern Sie sich noch an seine Reaktion, als Sie ihn darüber informierten, was passiert war?«
Wieder wandten sich die Gesichter der Anklagebank zu, neugierig und von Entsetzen erregt zugleich.
»Ja – er war selbstverständlich schockiert. Als ihm klar wurde, daß es eine Angelegenheit für die Polizei war, schickte er mich, diese zu informieren.«
»Oh? Es war ihm also nicht sofort klar?«
»Was vielleicht meine Schuld war«, gab sie zu. »So wie ich es ihm berichtet habe, mag er wohl gedacht haben, es handle sich um einen natürlichen Todesfall. In einem Krankenhaus wird ständig gestorben!«
»Natürlich. Schien er Angst zu haben oder nervös zu sein?« Ein Anflug bitterer Belustigung huschte über ihr Gesicht.
»Nein. Er war völlig ruhig. Ich glaube, er hatte seine Operation eben beendet.«
»Erfolgreich?« Er hatte sich bereits vergewissert, daß sie erfolgreich verlaufen war, sonst hätte er nicht gefragt. Er konnte sich noch lebhaft erinnern, Sir Herbert gefragt zu haben, und an dessen offene, wenn auch
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