Im Schatten der Gerechtigkeit
oder nicht. Sollte er es dabei belassen, anstatt zu riskieren, alles nur noch schlimmer zu machen, oder sollte er alles mit einem kühnen Angriff wieder wettzumachen versuchen? Er war ein tapferer Mann. Er entschied sich für letzteres, und Rathbone hatte es gewußt. Selbstverständlich hatte Geoffrey Taunton draußen gewartet wie alle noch nicht aufgerufenen Zeugen; er hatte also keine Ahnung, was über ihn gesagt worden war. Ebensowenig wie er Nanette Cuthbertson bemerkte, die verkrampft und mit gespannter Miene im Publikum saß, auf daß ihr keines der Worte entging, die sie so fürchtete. Sie hatte nicht die geringste Möglichkeit ihn zu warnen.
»Mr. Taunton«, begann Lovat-Smith, und das Selbstvertrauen in seiner Stimme strafte Rathbones Gefühl Lügen. »Sie kannten Miss Barrymore sehr gut, und das seit Jahren«, fügte er hinzu.
»Wußten Sie Näheres über ihre Gefühle zu Sir Herbert Stanhope? Ich möchte Sie bitten, nicht zu spekulieren, sondern uns nur Ihre eigenen Beobachtungen zu berichten oder was sie Ihnen erzählt hat.«
»Selbstverständlich«, erklärte sich Geoffrey, den Hauch eines Lächelns auf den Lippen, einverstanden. Er war voller Selbstvertrauen. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, warum die Leute ihn so gespannt anstarrten oder warum die Geschworenen ihn zwar ansahen, aber seinem Blick auswichen. »Ja, ich war mir seit einigen Jahren schon ihres Interesses für die Medizin bewußt, und so überraschte es mich auch nicht, als sie sich entschloß, auf die Krim zu gehen, um im Lazarett von Skutari unseren verwundeten Soldaten zu helfen.« Er legte beide Hände auf die Brüstung. Er machte einen frischen, lässigen Eindruck.
»Ich gestehe aber, daß ich sehr bestürzt war, als sie darauf bestand, hier in London die Stellung im Königlichen Armenspital anzunehmen. Schließlich brauchte man sie hier bei weitem weniger dringend. Es gibt Hunderte von Frauen, die sich für diese Art von Arbeit eignen und auch durchaus bereit sind, sie zu tun, während sie sich für eine Frau ihres Standes nun wirklich nicht schickt.«
»Haben Sie ihr das zu erklären, ihr die Arbeit auszureden versucht?« fragte Lovat-Smith.
»Mehr als das, ich habe ihr die Ehe angeboten.« Nur ein Hauch von Farbe überzog seine Wangen. »Aber sie hatte sich bereits dazu entschlossen.« Sein Mund wurde zu einem Strich.
»Sie hatte völlig unrealistische Vorstellungen von der medizinischen Praxis, und, wie ich zu meinem Bedauern sagen muß, der Wert, den sie ihren Fertigkeiten beimaß, stand in keinem Verhältnis zu dem, was sie hierzulande damit anfangen konnte. Ich nehme an, ihre Erfahrungen während des Kriegs führten zu Vorstellungen, die zu Hause, in Friedenszeiten völlig unpraktikabel waren. Ich denke, unter vernünftiger Anleitung hätte sie das mit der Zeit auch erkannt.«
»Unter Ihrer Anleitung, Mr. Taunton?« sagte Lovat-Smith höflich, seine grauen Augen ganz groß.
»Und der ihrer Mutter, ja«, pflichtete Geoffrey ihm bei.
»Aber das war Ihnen noch nicht gelungen?«
»Zu meinem Bedauern, nein.«
»Können Sie sich auch vorstellen, warum nicht?«
»Das kann ich sehr wohl. Sir Herbert Stanhope hat sie ermutigt.« Er warf einen verächtlichen Blick auf die Anklagebank.
Sir Herbert sah ihn seelenruhig an, nicht die Spur von Schuldbewußtsein oder Ausflüchten in seinem Blick.
Einer der Geschworenen lächelte in sich hinein. Rathbone sah es und freute sich über den kleinen Sieg.
»Sind Sie ganz sicher?« fragte Lovat-Smith. »Das scheint mir doch ziemlich außergewöhnlich. Ich meine, wenn einer gewußt haben muß, daß sie weder die Fähigkeiten noch die Möglichkeiten hatte, jemals eine Verantwortung zu übernehmen, die über die einer gewöhnlichen Schwester hinausging, dann doch wohl er. Mit anderen Worten, sie wäre nie mehr als eine Art Dienstbote gewesen, der Fäkalieneimer leert, Packungen macht und Laken und Bandagen wechselt.« Er unterstrich diese Punkte mit ebenso natürlichen wie energischen Bewegungen seiner kurzen, kräftigen Hände. »Der Patienten beobachtet, in Notfällen den Arzt ruft und nach Anweisung Medikamente verabreicht. Was hätte sie hier in England sonst schon tun können? Hier gibt es keine Feldlazarette, in denen ganze Wagenladungen Verwundeter eintreffen.«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, sagte Geoffrey mit sichtlichem Widerwillen. »Aber sie hat mir völlig unmißverständlich erzählt, er hätte ihr gesagt, es gebe eine Zukunft für sie – mit
Weitere Kostenlose Bücher