Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
nicht. Ich danke Ihnen, Mr. Taunton. Das wäre alles. Sie sind entlassen.«
    Geoffrey Taunton stieg langsam die Treppe hinab, als wäre er sich nicht sicher, ob er nicht besser oben bleiben und noch etwas hinzufügen sollte. Schließlich wurde ihm klar, daß er die Gelegenheit verpaßt hatte, falls er überhaupt eine gehabt hatte, und legte die wenigen Meter zu den Publikumsbänken mit einem Dutzend Schritte zurück.
    Die erste Zeugin des Nachmittags war Berenice Ross Gilbert. Allein schon ihre Erscheinung sorgte für Bewegung, noch bevor sie auch nur ein Wort gesagt hatte. Sie war ruhig, außerordentlich selbstsicher und trug ein prächtiges Kleid. Trotz der ernsten Angelegenheit hatte sie sich nicht für Schwarz entschieden, es wäre geschmacklos gewesen, da sie schließlich um niemanden trauerte. So trug sie denn eine pflaumenblaue, mit Holzkohlengrau durchschossene Jacke, einen mächtigen Rock in einem ähnlichen Ton, nur etwas, dunkler. Das Ensemble schmeichelte sowohl ihrem Teint als auch ihrem Alter und wirkte gleichzeitig distinguiert und dramatisch. Rathbone hörte die Leute nach Luft schnappen, als sie in den Saal kam, und als sich Lovat-Smith erhob, um ihr seine Fragen zu stellen, legte sich eine erwartungsvolle Stille über den Saal. Eine solche Frau mußte schließlich etwas Wichtiges zu sagen haben.
    »Lady Ross Gilbert«, begann Lovat-Smith. Er wußte nichts von Ehrerbietung – etwas in seinem Charakter ließ ihm allein schon die Vorstellung albern erscheinen –, aber seine Stimme zeugte von Respekt, sei es nun für sie oder die Situation. »Sie gehören dem Verwaltungsrat des Hospitals an. Sie verbringen dort einen beträchtlichen Teil Ihrer Zeit?«
    »In der Tat.« Ihre Stimme war sehr klar und kräftig. »Ich bin nicht jeden Tag dort, aber doch drei-, viermal die Woche. Es gibt viel zu tun.«
    »Da bin ich sicher. Ausgesprochen bewundernswert. Ohne die großzügige Hilfe von Leuten wie Ihnen wären derlei Orte in einem argen Zustand«, sagte Lovat-Smith anerkennend, obwohl die Wahrheit dieser Aussage zweifelhaft war. Er machte sich jedoch nicht die Mühe, weiter darauf einzugehen. »Haben Sie Prudence Barrymore des öfteren gesehen?«
    »Selbstverständlich. Man bittet mich häufig, den Schwestern Vorträge über moralische Richtlinien und Pflichten zu halten. Ich sah die arme Prudence fast jedesmal, wenn ich dort war.« Sie sah ihn an und wartete lächelnd auf die nächste offensichtliche Frage.
    »War Ihnen aufgefallen, daß sie sehr häufig mit Sir Herbert Stanhope zusammenarbeitete?«
    »Selbstverständlich.« Ein Anflug von Bedauern schlich sich in ihre Stimme. »Zunächst erschien mir das ganz logisch, schließlich war sie eine exzellente Schwester.«
    »Und später?« drängte Lovat-Smith.
    In einer beredsamen Geste hob sie die Schulter. »Später mußte ich erkennen, daß sie ihm ergeben war.«
    »Meinen Sie damit, mehr, als sich aus den üblichen Pflichten erklären ließ?« Lovat-Smith wählte seine Worte sehr sorgfältig, um keinen Fehler zu machen, der Rathbone Gelegenheit zum Einspruch gegeben hätte.
    »In der Tat«, sagte Berenice nach einem bescheidenen Zögern. »Es war offensichtlich, daß ihre Verehrung für ihn an Leidenschaft grenzte. Er ist ein guter Chirurg, wie wir alle wissen, aber bei Prudence’ Hingabe, den Extrapflichten, die sie freiwillig übernahm, war es schließlich nicht mehr zu übersehen, daß ihre Gefühle für ihn über den Beruf hinausgingen, so engagiert und gewissenhaft sie auch sein mochte.«
    »Hatten Sie irgendwelche Hinweise darauf, daß sie Sir Herbert liebte?« fragte Lovat-Smith. Obwohl sein Ton bescheiden und freundlich war, drangen seine in die Totenstille gesprochenen Worte bis in den letzten Winkel des Saals.
    »Ihre Augen begannen zu leuchten, wann immer sie seinen Namen hörte, ihre Haut glühte. Sie strahlte eine Art innerer Energie aus.« Berenice lächelte und machte ein etwas wehmütiges Gesicht. »Ich habe keine andere Erklärung dafür, wenn sich eine Frau so benimmt.«
    »Ich auch nicht«, gestand Lovat-Smith. »Bedenkt man, daß das moralische Wohl der Schwestern zu Ihren Obliegenheiten gehört, Lady Ross Gilbert, haben Sie Prudence Barrymore darauf angesprochen?«
    »Nein«, sagte sie langsam, als sei sie noch am Überlegen.
    »Um offen zu sein, ich habe nie gedacht, daß ihre Moral in Gefahr sein könnte. Sich zu verlieben ist menschlich.« Mit einem spöttischen Blick sah sie an Lovat-Smith vorbei ins Publikum. »Ist eine Liebe so

Weitere Kostenlose Bücher