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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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auf dem Schlachtfeld und im Lazarett überlebt. Sie ist weder vor dem Blutbad weggelaufen, noch vor Verstümmelungen, Epidemien, Schmutz, Ungeziefer, Erschöpfung, Hunger, Kälte oder den Vorgesetzten in der Armee, die ihr Knüppel zwischen die Beine warfen. Also ich bezweifle wirklich, daß sie eine Vorlesung an der Universität durchgestanden hätte!«
    »Na schön«, lenkte er ein. »Es war töricht von mir. Ich bitte um Entschuldigung. Aber Sie sehen das von Ihrem Standpunkt aus. Ich versuche es vom Standpunkt der Universitätsleitung aus zu sehen, so irrig dieser auch sein mag, aber es sind nun einmal die Leute, die über ihre Aufnahme zu befinden gehabt hätten. Und um ehrlich zu sein, so ungerecht das auch sein mag, sie hätte nicht die geringste Chance gehabt.«
    »Vielleicht ja doch«, sagte sie leidenschaftlich, »wenn Sir Herbert sich für sie eingesetzt hätte!«
    »Das werden wir nie erfahren.« Er schürzte die Lippen. »Aber es wirft ein ganz neues Licht auf die Sache. Es erklärt, warum er keine Ahnung hatte, daß sie ihn zu lieben schien.« Er legte die Stirn in Falten. »Es bedeutet außerdem, daß er alles andere als ehrlich mit mir war. Er muß gewußt haben, worauf sie sich bezog!«
    »Alles andere als ehrlich!« explodierte sie mit einer ungestümen Handbewegung.
    »Nun, er hätte mir sagen müssen, daß er ihr Hoffnungen gemacht hat, man könnte sie zum Medizinstudium zulassen. Wie falsch auch immer diese gewesen sein mögen«, antwortete er vernünftig. »Aber vielleicht hielt er es für unwahrscheinlich, daß die Geschworenen ihm das abnehmen würden.« Er machte ein verwirrtes Gesicht. »Obwohl er damit kein Motiv mehr gehabt hätte. Ist doch merkwürdig. Ich verstehe das nicht.«
    »Du lieber Gott! Aber ich!« Sie erstickte fast an ihren eigenen Worten. Am liebsten hätte sie ihn geschüttelt, bis ihm die Zähne klapperten. »Ich habe den Rest der Briefe gelesen, sehr sorgfältig. Ich weiß, was sie zu bedeuten haben. Er nahm Abtreibungen vor, und sie hatte detaillierte Notizen darüber: die Namen der Patientinnen, die Tage, die Behandlung – einfach alles! Er hat sie umgebracht, Oliver. Er ist schuldig!«
    Er streckte ihr eine Hand entgegen; sein Gesicht war ganz blaß.
    Sie holte den Rest der Briefe aus ihrer Tasche und reichte sie ihm. »Sie sind kein Beweis«, gab sie zu. »Wenn dem so gewesen wäre, hätte ich sie Lovat-Smith gegeben. Aber kennt man erst einmal ihre Bedeutung, dann versteht man alles ich weiß, was passiert sein muß. Faith Barber weiß, daß es wahr ist. Die Chance, zu studieren und sich als Ärztin zu qualifizieren, war das einzige, was Prudence dazu hätte bewegen können, von ihrem Wissen auf diese Weise Gebrauch zu machen.«
    Ohne ihr zu antworten, las er schweigend die Briefe, die sie ihm gegeben hatte. Es dauerte kaum zehn Minuten, als er aufsah. »Sie haben recht«, pflichtete er ihr bei. »Sie beweisen nichts.«
    »Aber er war es! Er hat sie ermordet!«
    »Ja – da stimme ich Ihnen zu.«
    »Was wollen Sie tun?« fragte sie wütend.
    »Ich weiß nicht.«
    »Aber Sie wissen doch, daß er schuldig ist!«
    »Ja… schon. Aber ich bin sein Anwalt.«
    »Aber…« Sie verstummte. Sein Ausdruck sagte ihr, daß sein Entschluß feststand, und sie akzeptierte das, auch wenn sie ihn nicht verstand. Sie nickte. »Ja – wenn Sie meinen.«
    Er lächelte freudlos. »Ich danke Ihnen. Jetzt würde ich gern etwas nachdenken.«
    Er rief ihr eine Droschke, half ihr beim Einsteigen, und sie fuhr in wortlosem Aufruhr davon.
    Als Rathbone in die Zelle kam, stand Sir Herbert auf. Er machte einen ruhigen Eindruck, als hätte er gut geschlafen und erwarte noch diesen Tag seine Rehabilitierung. Er sah Rathbone an, offensichtlich ohne die völlige Veränderung in dessen Auftreten zu bemerken.
    »Ich habe noch einmal Prudence’ Briefe gelesen«, begann Rathbone, ohne darauf zu warten, daß Sir Herbert etwas sagte. Seine Stimme war scharf und schneidend.
    Sir Herbert entging dieser Ton nicht; er kniff die Augen zusammen. »Ach ja? Ist das von Bedeutung?«
    »Es hat sie auch jemand gelesen, der Prudence Barrymore kannte und selbst Erfahrung in der Krankenpflege hat.«
    Weder veränderte sich Sir Herberts Gesichtsausdruck, noch sagte er etwas. »Sie beschreibt, und das sehr detailliert, eine Reihe von Operationen an Frauen, zumeist jungen Frauen. Aus ihren Worten geht ganz offensichtlich hervor, daß es sich dabei um Abtreibungen handelt.«
    Sir Herberts Brauen hoben sich. »Exakt«,

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