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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Abendessen einen Gast mehr zu haben.
    Nachdem der Höflichkeit andeutungsweise Genüge getan war, holte Faith die Briefe, und Hester setzte sich auf das Sofa und las.
    Die meisten Einzelheiten waren für sie als Krankenschwester von Interesse. Es handelte sich um klinische Notizen zu einer Vielzahl von Fällen, und sie konnte nur staunen über Prudence’ medizinisches Wissen. Es war weitaus profunder als ihr eigenes, das sie bisher für durchaus ordentlich gehalten hatte.
    Die Worte waren vertraut, und die Wendungen weckten eine so scharfe Erinnerung an Prudence, daß sie fast glaubte ihre Stimme zu hören.
    Sie erinnerte sich an die Schwestern, die bei Kerzenlicht auf den schmalen Pritschen lagen und sich, in graue Decken gehüllt, unterhielten, um Gefühle zu teilen, die allein nicht zu ertragen waren. Es war eine Zeit, die sie der Unschuld beraubt und zu der Frau gemacht hatte, die sie heute war – und Prudence war ein unauslöschlicher Teil dieses Prozesses und damit auch ihres Lebens geworden.
    Hinweise auf eine Veränderung ihrer Ideale, ihrer Persönlichkeit boten die Briefe jedoch nicht.
    Die Bemerkungen über Sir Herbert waren völlig objektiv und hatten ausschließlich mit seinem beruflichen Können zu tun. Mehrere Male lobte sie ihn: für seinen Mut, neue Techniken anzuwenden, seine diagnostische Hellsicht oder die Klarheit, mit denen er seine Studenten unterwies. Dann lobte sie die Großzügigkeit, mit der er sein Wissen mit ihr teilte. Möglich, daß sich das eher nach einem Lob für den Mann anhörte als nach beruflicher Dankbarkeit, aber für Hester, der die medizinischen Details sowohl einleuchtend als auch interessant schienen, drückte sich hier lediglich ihre Begeisterung über das neue Wissen aus; es wäre ihr selbst nicht anders ergangen, hätte ein Arzt sie so behandelt. Der Mann selber war dabei austauschbar.
    Absatz für Absatz kam ihre Liebe zur Medizin zum Ausdruck, ihre Begeisterung über neue Erkenntnisse, ihr grenzenloser Glaube an ihre künftigen Möglichkeiten.
    »Sie hätte wirklich Arzt werden sollen«, sagte Hester noch einmal und lächelte in Erinnerungen versunken. »Sie wäre eine so gute Ärztin gewesen!«
    »Deshalb ist es ja so komisch, daß sie unbedingt heiraten wollte!« antwortete Faith. »Wenn es darum gegangen wäre, sie zum Medizinstudium zuzulassen, ja, dann hätte ich es geglaubt! Ich denke, dafür hätte sie wohl alles getan. Auch wenn es selbstverständlich unmöglich war. Ich weiß. Es gibt keine medizinische Fakultät, die Frauen aufnimmt.«
    »Ich frage mich das wirklich…«, sagte Hester ganz langsam.
    »Was, wenn ein bedeutender Chirurg – sagen wir einmal jemand wie Sir Herbert – sie empfehlen würde?«
    »Nie!« Faith verwarf den Gedanken, aber ihre Augen leuchteten bereits interessiert auf.
    »Sind Sie sicher?« fragte Hester eindringlich und beugte sich vor. »Halten Sie es für völlig ausgeschlossen, daß Prudence geglaubt haben könnte, man würde sie nehmen?«
    »Sie meinen, daß es das war, wozu sie Sir Herbert zwingen wollte?« Faiths Augen wurden ganz groß, als es ihr zu dämmern begann. »Es hatte überhaupt nichts mit einer Heirat zu tun! Er sollte ihr zu einer medizinischen Ausbildung verhelfen – nicht als Krankenschwester, sondern als Arzt! Ja – ja, das wäre möglich! Das sähe Prudence ähnlich! So etwas hätte sie getan!« Ihre Gefühle waren ihr deutlich anzusehen. »Aber wie? Sir Herbert hätte ihr doch ins Gesicht gelacht! Er hätte ihr gesagt, sie solle sich nicht lächerlich machen!«
    »Wie weiß ich auch nicht«, gestand Hester. »Aber so etwas hätte sie getan – nicht wahr?«
    »Ja – ja, ganz bestimmt.«
    Hester beugte sich wieder über die Briefe und las sie unter einem ganz neuen Gesichtspunkt – sie verstand jetzt, warum die Operationen so detailliert geschildert, jede Prozedur, jede Reaktion des Patienten so präzise vermerkt war.
    Sie las noch mehr von den Briefen mit detaillierten Angaben über Operationen. Faith saß schweigend daneben und wartete.
    Auf einmal erstarrte sie. Sie hatte über drei Operationen gelesen, die alle auf die gleiche Art vorgenommen worden waren. Es war weder von einer Diagnose die Rede, noch von Symptomen, Schmerzen oder Fehlfunktionen. Sie fing noch einmal an und las sie sehr sorgfältig durch. Bei allen drei Patienten handelte es sich um Frauen.
    Schlagartig wurde ihr klar, wovon die Rede war: Es handelte sich um drei Abtreibungen – die nicht etwa durchgeführt worden waren, weil

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