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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Nasen und Mundpartie.
    »Vielleicht«, räumte er ein. »Aber es wird mich nicht davon abhalten zu suchen. Er hat sie umgebracht, und wenn ich kann, werde ich dafür sorgen, daß der Schurke dafür hängt.« Und ohne eine Reaktion der anderen abzuwarten, wandte er sich auf dem Absatz um und ging hinaus; die Tür ließ er offen.
    Rathbone sah Hester an. »Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte sie leise. »Aber tun werde ich etwas! Und was Sie tun müssen«, sie lächelte, um die Arroganz ihrer Worte zu mildern, »ist, den Prozeß so lange wie möglich hinauszuzögern.«
    »Wie denn?« Seine Brauen schossen nach oben. »Ich bin fertig!«
    »Wie weiß ich auch nicht! Rufen Sie weitere Leumundszeugen auf, die sagen, was für ein feiner Mensch er ist!«
    »Ich brauche keine mehr!« protestierte er.
    »Das weiß ich auch. Rufen Sie sie trotzdem auf!« Sie machte eine unwirsche Handbewegung. »Tun Sie etwas, irgend etwas – nur verhindern Sie, daß die Geschworenen jetzt schon zu einem Urteil kommen!«
    »Es hat doch keinen Sinn.«
    »Tun Sie’s!« explodierte sie. »Geben Sie nicht auf!«
    Ein feines Lächeln umspielte seine Lippen, kaum mehr als ein Hauch, aber seine Augen leuchteten vor Bewunderung.
    »Gut«, räumte er ein. »Aber es hat wirklich wenig Sinn.« Callandra wußte, wie es um das Verfahren stand. Sie war an jenem letzten Nachmittag selbst dabeigewesen und hatte Sir Herberts Gesicht gesehen, die Art wie er auf der Anklagebank saß, kerzengerade, mit ruhigem Blick. Und sie hatte gesehen, daß ihn die Geschworenen ganz zufrieden angesehen hatten. Nicht einer war rot angelaufen, wenn er in seine Richtung gesehen hatte. Es war offensichtlich, daß sie ihn für unschuldig hielten.
    Damit mußte es jemand anderes gewesen sein. Jemand anderes hatte Prudence Barrymore ermordet.
    Kristian Beck? Weil er Abtreibungen vorgenommen und sie davon gewußt und gedroht hatte, ihn anzuzeigen?
    Der Gedanke war so gräßlich, daß er sich nicht mehr länger verdrängen ließ. Er vergällte ihr das ganze Leben. Bis weit nach Mitternacht warf sie sich unruhig im Bett hin und her, setzte sich schließlich auf und versuchte den Mut aufzubringen, eine Entscheidung zu erzwingen. Sie stellte sich vor, wie sie ihn zur Rede stellte, ihm vorhielt, was sie gesehen hatte. Immer und immer wieder kleidete sie ihren Vorwurf in neue Worte, um ihn erträglich zu machen. Es ging nicht.
    Sie spielte sämtliche Antworten durch, die er ihr geben könnte. Konnte sein, daß er sie einfach belog – und sie würde wissen, es ist eine Lüge und furchtbar darunter leiden. Beim Gedanken daran traten ihr heiße Tränen in die Augen. Oder er gestand ihr alles und entschuldigte sich mit einer jämmerlichen und berechnenden Ausrede. Was fast noch schlimmer wäre. Sie verdrängte den Gedanken, ohne ihn zu Ende zu denken.
    Ihr war kalt, und sie saß zitternd auf dem Bett, die Decken ein nutzloses Knäuel neben ihr.
    Oder er würde wütend, sagte ihr, sie solle sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern und sich aus seinem Büro scheren. Womöglich kam es zu einem Streit, der nie wieder beizulegen wäre – wenn ihr daran überhaupt noch etwas lag. Das wäre schrecklich, aber allemal besser als die beiden ersten Möglichkeiten. Eine heftige, häßliche Szene, aber wenigstens ehrlich.
    Dann war da noch die letzte Möglichkeit: daß er ihr erklärte, es habe sich um keine Abtreibung gehandelt, sondern um eine andere Operation – womöglich hatte er Marianne nach einer Abtreibung, durchgeführt von irgendeinem Hinterhofmetzger, das Leben gerettet? Das wäre natürlich das beste; er hätte es um ihretwillen für sich behalten!
    Aber war das wirklich möglich? Machte sie sich da nicht etwas vor? Und falls er ihr tatsächlich etwas dergleichen sagte, würde sie es ihm glauben? Oder wäre sie wieder dort, wo sie jetzt war – verzweifelt und ängstlich, weil sie den schrecklichen Verdacht nicht los wurde, es könnte ein noch weit schlimmeres Verbrechen dahinterstecken?
    Erschöpft legte sie den Kopf auf die Knie.
    Allmählich jedoch kam sie zu einem Entschluß: Sie mußte ihn zur Rede stellen. Und was immer er ihr sagte, sie würde damit leben müssen. Es war der einzig gangbare Weg.
    »Herein.« Mit festem Griff öffnete sie und trat ein. Sie zitterte am ganzen Körper, fast wollten ihr die Beine versagen, aber es war kein Zaudern mehr in ihr – der Entschluß war gefaßt.
    Kristian saß an seinem Schreibtisch. Er stand auf, als er sie sah, und trotz seiner

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