Im Schatten der Gerechtigkeit
Gefahr für Leib und Leben der Frauen bestand, sondern aus rein persönlichen Gründen. Die Mütter wollten das Kind nicht haben! In allen drei Fällen dieselbe Schilderung, ja sogar derselbe Wortlaut – wie ein Ritual.
Hastig überflog Hester den Rest der Briefe. Sie fand sieben weitere Operationen, deren Beschreibung sich haargenau glich, Wort für Wort, und jede war mit den Initialen der Patientin versehen. Auch darin unterschieden sich die Briefe von allen anderen: in diesen hatte sie, sehr ausführlich, den Patienten beschrieben, oft sogar mit einer persönlichen Bemerkung wie etwa »eine attraktive Frau« oder »ein arroganter Mann«.
Diese Briefe ließen nur einen Schluß zu: Prudence hatte von diesen Operationen gewußt, ihnen aber nicht beigewohnt. Sie hatte nur soviel erfahren, um sich während der ersten Stunden danach um die Frauen kümmern zu können. Sie machte sich die Notizen aus einem anderen Grund.
Erpressung! Es war ein kalter, ekelhafter Gedanke – aber er ließ sich nicht umgehen. Das also war ihre Handhabe gegen Sir Herbert! Deshalb hatte Sir Herbert sie ermordet! Sie hatte ihre Macht einzusetzen versucht; einmal in ihrem Leben hatte sie sich übernommen, und er hatte die schönen, kräftigen Hände ausgestreckt, um ihren Hals gelegt und zugedrückt, bis sie nicht mehr atmete!
Reglos saß Hester in dem kleinen Raum, während das Licht draußen schwand. Ihr war mit einemmal kalt, als hätte sie Eis geschluckt. Kein Wunder, daß er wie vom Donner gerührt schien, als man ihn einer Affäre mit Prudence bezichtigte! Wie lächerlich war das doch, wie absurd weit von der Wahrheit!
Sie wollte, daß er ihr zu einem Medizinstudium verhalf. Sie hatte mit ihrem Wissen um diese illegalen Operationen Druck auf ihn ausgeübt – und dafür mit dem Leben bezahlt.
Sie blickte Faith an.
Diese hatte sie beobachtet. »Sie wissen es«, sagte sie schlicht.
»Was ist es?«
Sorgfältig und ausführlich schilderte ihr Hester, was sie wußte. Faith saß mit aschfahlem Gesicht da, ihre Augen vor Entsetzen ganz schwarz. »Was wollen Sie tun?« fragte sie, als Hester fertig war.
»Zu Oliver Rathbone gehen und es ihm sagen«, antwortete Hester.
»Aber er verteidigt doch Sir Herbert!« Faith war entsetzt. »Er ist doch auf Sir Herberts Seite! Warum gehen Sie damit nicht zu Mr. Lovat-Smith?«
»Mit dem hier?« fragte Hester sie. »Das ist kein Beweis! Wir verstehen das nur, weil wir Prudence kannten. Wie auch immer, Lovat-Smiths Fall ist abgeschlossen. Wir haben weder einen neuen Zeugen, noch neues Beweismaterial – wir haben nur eine neue Erklärung für das, was das Gericht bereits gehört hat. Nein, ich gehe zu Oliver. Vielleicht weiß er, was zu tun ist. So Gott will!«
»Aber dann kommt er davon!« sagte Faith verzweifelt.
»Glauben Sie… glauben Sie wirklich, wir tun das Richtige?«
»O ja, das glaube ich. Ich gehe noch heute abend zu Oliver. Ich nehme an, wir können uns irren… nein, nein, wir irren uns nicht! Wir haben völlig recht!« Schon war sie auf den Beinen.
»Sie können da nicht alleine hin!« protestierte Faith. »Wo wohnt er?«
»Und ob ich das kann! Das ist nicht der rechte Zeitpunkt für Artigkeiten. Ich werde eine Droschke nehmen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich danke Ihnen vielmals dafür, daß Sie mir die Briefe überlassen haben. Ich werde sie Ihnen zurückgeben, ich verspreche es.« Ohne noch länger zu warten, stopfte sie die Briefe in ihre große Tasche, umarmte Faith Barber und stürzte aus dem Wohnzimmer, die Treppe hinab und hinaus auf die kühle, belebte Straße.
»Das könnte wohl sein«, sagte Rathbone zweifelnd, den Stapel Briefe in der Hand. »Aber ein Medizinstudium? Als Frau! Kann sie wirklich geglaubt haben, daß das möglich sei?«
»Warum nicht?« sagte Hester wütend. »Sie hatte das nötige Talent und einen ausgezeichneten Verstand; zudem hatte sie eine ganze Menge mehr Erfahrung, als sie die meisten Studenten mitbringen! Um genau zu sein, sogar mehr als die meisten nach ihrem Abschluß!«
»Aber dann…«, begann er, verstummte jedoch, als er ihr in die Augen sah.
»Ja?« fragte sie. »Aber was?«
»Aber das intellektuelle Stehvermögen, die physische Kraft, das durchzustehen«, beendete er seinen Satz und sah sie dabei wachsam an.
»Oh, das bezweifle ich!« Ihre Stimme troff vor Sarkasmus.
»Sie war ja schließlich nur eine Frau. Sie hat ja nur auf eigene Faust in der Bibliothek des Britischen Museums studiert, ist in den Krimkrieg gezogen, hat
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