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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Zeitungsjungen verkündeten lauthals das Neueste aus Parlament, Gesellschaft, Indien, China, Königshaus, internationaler Politik und, nicht zu vergessen, vom Kricket. Zwei Männer stritten sich um einen Hansom, ein Kuchenverkäufer pries seine Waren an, und eine Frau rief nach einem verlorengegangenen Kind.
    Faith starrte Hester noch immer an. »Warum sind Sie hingegangen?« fragte sie schließlich. »Oh, ich sehe, es ist eine impertinente Frage, und ich möchte mich entschuldigen. Ich glaube nicht, daß ich sie Ihnen erklären kann, aber ich muß es einfach wissen – weil ich Prudence verstehen muß, was mir einfach nicht gelingen will. Ich habe sie geliebt. Sie war eine so prachtvolle Person, so voller Energie und Ideen.«
    Sie lächelte und war gleichzeitig den Tränen nah. »Sie war drei Jahre älter als ich. Als Kind habe ich sie angebetet. Für mich war sie ein Fabelwesen – voller Leidenschaft und Edelmut. Ich habe mir immer vorgestellt, sie würde einmal einen furchtbar schneidigen Mann heiraten – irgendeinen Helden. Nur ein Held wäre gut genug für Prudence.« Ein junger Mann mit Zylinder rempelte sie an, entschuldigte sich und eilte weiter, aber sie schien ihn gar nicht zu sehen. »Aber dann schien sie überhaupt nicht heiraten zu wollen.« Sie lächelte wehmütig.
    »Ich hatte selbst alle möglichen Träume – aber ich wußte, daß es Träume waren. Ich habe nie wirklich geglaubt, jemals die Quelle des Nils zu entdecken oder in Afrika Heiden zu bekehren und dergleichen. Ich wußte, wenn ich Glück hätte, würde ich einen ehrenwerten Mann finden, den ich lieben und in den ich genügend Vertrauen haben könnte, um ihn zu heiraten und Kinder zu haben.«
    Ein Botenjunge mit einer Nachricht in der Hand fragte sie nach einer Straße, hörte sich an, was Hester ihm sagte und machte sich dann unsicher wieder auf den Weg.
    »Ich war etwa sechzehn, als mir klar wurde, daß Prudence ihre Träume tatsächlich verwirklichen würde«, fuhr Faith fort, als wäre sie nie unterbrochen worden.
    »Als Krankenschwester«, warf Hester ein, »oder um Orte aufzusuchen wie die Krim – ein Schlachtfeld?«
    »Nun, eigentlich wollte sie Arzt werden«, antwortete Faith.
    »Was selbstverständlich unmöglich ist.« Sie lächelte über die Erinnerung. »Sie konnte sich unglaublich darüber aufregen, eine Frau zu sein. Sie wäre viel lieber ein Mann gewesen, um all das tun zu können. Aber natürlich ist das sinnlos, und Prudence hat nie viel Zeit auf sinnlose Gefühle vergeudet. Sie hat es einfach akzeptiert.« Sie schniefte in dem Bemühen, die Beherrschung nicht zu verlieren. »Ich glaube einfach nicht, daß sie alle ihre Ideale verraten haben sollte, um einen Mann wie Sir Herbert in eine Ehe zu zwingen! Ich meine, was hätte sie davon gehabt, selbst wenn er eingewilligt hätte? Es ist so dumm! Was ist nur mit ihr passiert, Miss…« Sie hielt inne, ihr Gesicht von Schmerz und Ratlosigkeit gezeichnet.
    »Latterly«, sagte Hester. »Ich weiß nicht, was mit ihr passiert ist, aber ich werde nicht ruhen, bis ich es herausgefunden habe.« Sie überlegte einen Moment. »Sie meinen, die Prudence, die Sie gekannt haben, hätte sich nicht so benommen, wie das der Fall zu sein scheint?« fragte Hester.
    »Genau das ist es! Verstehen Sie das?«
    »Nein – wenn wir nur die Briefe noch einmal lesen könnten und sehen, ob es keinen Hinweis darauf gibt, wann und warum sie sich so verändert hat!«
    »Oh, ich habe noch einige!« sagte Faith rasch. »Ich habe ihnen nur die gegeben, die sich auf Sir Herbert und ihre Gefühle für ihn beziehen. Ich habe noch genügend andere.«
    Hester packte sie am Arm. Ihre Umgangsformen waren ebenso schlagartig vergessen wie die Tatsache, daß sie sich erst kaum zehn Minuten kannten. »Sie haben sie! Bei sich, hier in London?«
    »Gewiß. In meiner Unterkunft! Wollen Sie mitkommen und sie sich ansehen?«
    »Ja – ja, und ob ich das will. Wenn Sie es gestatten?« willigte Hester viel zu rasch ein, aber Höflichkeit und Anstand waren in diesem Augenblick belanglos. »Kann ich sofort mitkommen?«
    »Natürlich«, willigte Faith ein. »Wir müssen aber eine Droschke nehmen. Es ist ein ganzes Stück dorthin.«
    Hester drehte sich auf dem Absatz um und stürzte an den Randstein, schob sich durch die diskutierenden Männer und Frauen und rief, so laut sie konnte: »Hansom! Droschke! Hierher, bitte!«
    Faith Barbers Quartier war schäbig, aber makellos sauber, und der Wirtin schien es nichts auszumachen, zum

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