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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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offensichtlichen Müdigkeit trat ein freudiges Lächeln auf sein Gesicht. War es das schlechte Gewissen, das ihn nicht schlafen ließ? Sie schluckte, und der Atem stockte ihr.
    »Callandra? Geht es Ihnen nicht gut?« Er zog ihr den zweiten Stuhl zurecht und hielt ihn, während sie sich setzte. Eigentlich hatte sie vorgehabt stehen zu bleiben, nahm jedoch dankend an, vielleicht auch, um es noch einen Augenblick hinauszuzögern.
    »Nein.« Ohne weitere Ausflüchte ging sie zur Attacke über, kaum daß er wieder auf seinen Stuhl zurückgekehrt war. »Ich mache mir furchtbare Sorgen und habe mich entschlossen, Sie endlich um Auskunft zu bitten. Ich muß es einfach tun.«
    Das Blut wich aus seinem Gesicht, bis es aschfahl war. Die dunklen Ringe um die Augen wirkten wie blaue Flecken. Seine Stimme war ganz leise, und seine Anspannung war nicht zu überhören. »Sprechen Sie.«
    Es war noch schlimmer, als sie gedacht hatte. Er sah so niedergeschlagen aus – ein Mann, der sein Urteil erwartete.
    »Sie sehen sehr müde aus…«, begann sie und war sofort wütend auf sich. Es war eine dumme Bemerkung, die überhaupt nichts zur Sache tat.
    Das feine, traurige Lächeln umspielte einmal mehr seinen Mund. »Sir Herbert ist nun schon einige Zeit weg. Ich tue für seine Patienten, was ich kann, aber es ist schwierig, sie so gut zu versorgen wie meine eigenen.« Er schüttelte kaum merklich den Kopf. »Aber das ist unwichtig. Sprechen wir über Ihre Gesundheit. Wo tut es Ihnen weh? Welche Symptome machen Ihnen Sorgen?«
    Wie dumm von ihr! Selbstverständlich war er müde – er mußte ja erschöpft sein, wenn er neben seiner eigenen auch noch Sir Herberts Arbeit erledigen mußte! Daran hatte sie überhaupt nicht gedacht. Und soweit ihr bekannt war, auch sonst keiner aus dem Verwaltungsrat. Wie inkompetent sie doch waren! Ihr einziges Thema bei den Sitzungen war der Ruf des Spitals.
    Und er hatte angenommen, sie sei krank – natürlich. Warum sonst sollte sie ihn, am ganzen Körper zitternd und mit heiserer Stimme, konsultieren?
    »Ich bin nicht krank«, sagte sie und begegnete seinem Blick mit dem Ausdruck schmerzlicher Entschuldigung in den Augen.
    »Was mir zu schaffen macht, ist die Angst und mein Gewissen.« Endlich war es heraus, und es war die Wahrheit keine Ausflüchte mehr. Sie liebte ihn. Das machte es ihr leichter, sie endlich in Worte zu fassen, ohne weiter um den heißen Brei herumzureden. Sie starrte in sein Gesicht. Was immer er getan hatte, diese Gegebenheiten ließen sich nicht ausreißen.
    »Weshalb denn?« fragte er und starrte sie an. »Wissen Sie etwas über Prudence Barrymores Tod?«
    »Ich glaube nicht – ich hoffe es jedenfalls nicht…«
    »Was dann?«
    Der Augenblick war gekommen.
    »Vor einer Weile«, begann sie, »habe ich Sie hier gestört, während Sie eine Operation durchführten. Sie haben mich weder gesehen noch gehört, und ich ging, ohne etwas zu sagen.« Er betrachtete sie mit einem besorgten kleinen Wulst zwischen den Brauen. »Ich habe die Patientin erkannt«, fuhr sie fort. »Es handelte sich um Marianne Gillespie, und ich fürchte, diese Operation diente dem Abort des Kindes, das sie erwartete.« Sie brauchte nicht mehr weiterzusprechen. Sie sah es an seinem Gesicht, das weder überrascht noch entsetzt war, daß es sich um die Wahrheit handelte. Sie versuchte, jedes Gefühl zu unterdrücken, um keinen Schmerz zu verspüren. Sie mußte sich von ihm distanzieren, erkennen, daß sie unmöglich einen Mann lieben konnte, der so etwas tat! Dann würde auch der grauenhafte Schmerz wieder vergehen!
    »Ja, das war es in der Tat«, sagte er. In seinem Blick lagen weder Angst noch Schuld. »Sie erwartete das Kind als Folge einer Vergewaltigung durch ihren Schwager. Die Schwangerschaft war noch nicht sehr weit fortgeschritten, weniger als sechs Wochen.« Er sah traurig und müde aus, und mochte ihm auch der Schmerz anzusehen sein, von Scham sah sie keine Spur. »Ich habe bereits mehrmals Abtreibungen vorgenommen«, sagte er leise, »wenn man mich früh genug zu Rate gezogen hat, während der ersten acht bis zehn Wochen, und das Kind die Frucht einer Gewalttat oder die Frau sehr jung war – manchmal noch nicht einmal zwölf. Oder sie war bei so schlechter Gesundheit, daß die Schwangerschaft sie das Leben gekostet hätte. Das waren die jeweiligen Umstände, und ich habe es nie gegen Entgelt getan.« Sie wollte ihn unterbrechen, etwas sagen, aber ihr Hals war wie zugeschnürt, ihre Lippen wie gelähmt.

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