Im Schatten der Gerechtigkeit
»Es tut mir leid, wenn Ihnen das entsetzlich erscheint.« Der Anflug eines Lächelns berührte seinen Mund.
»Außerordentlich leid. Sie müssen wissen, daß ich eine tiefe Zuneigung zu Ihnen empfinde, auch wenn es nicht richtig ist, Ihnen das zu sagen, schließlich bin ich nicht frei, Ihnen einen ehrenwerten Vorschlag zu machen. Aber wie immer Sie darüber denken mögen, ich habe lange und gründlich darüber nachgedacht. Sogar gebetet.« Wieder blitzte die Selbstironie auf und war ebenso rasch wieder verschwunden. »Und ich halte mein Tun für rechtens – ich kann es vor Gott verantworten. Ich bin der festen Überzeugung, daß eine Frau in einer solchen Situation das Recht auf eine eigene Entscheidung hat. Daran kann ich nichts ändern, auch Ihnen zuliebe nicht!«
Jetzt überkam sie eine schreckliche Angst um ihn. Man würde ihn erwischen, und das bedeutete nicht nur seinen beruflichen Ruin, sondern auch Gefängnis.
»Victoria Stanhope!« sagte sie heiser, ihr Herz voller Erinnerungen an ein bekümmertes Mädchen im rosa Kleid, die Augen erst voller Hoffnung, dann voll Verzweiflung. Dieses eine mußte sie noch wissen, dann würde sie nie wieder daran denken. »Haben Sie sie auch operiert?«
Kummer überschattete sein Gesicht. »Nein. Ich hätte es getan. Das Kind war Folge der Inzucht – durch Arthur, ihren Bruder, Gott stehe ihm bei. Aber sie stand bereits vier Monate vor der Entbindung. Es war zu spät. Ich konnte nichts mehr tun, ich wollte, es wäre möglich gewesen!«
Mit einemmal ergab sich ein ganz anderes Bild: Er machte das nicht des Geldes wegen! Er versuchte einigen der schwächsten und verzweifeltsten Menschen aus einer Situation zu helfen, die unerträglich war. War das rechtens? Oder war es eine Sünde?
Doch sicher nicht? Zeugte das nicht eher von Mitgefühl und Weisheit?
Sie starrte ihn an, unfähig die unermeßliche Erleichterung zu verbergen, die über sie hinwegschwappte. Die Tränen standen ihr in den Augen, ihre Stimme stak irgendwo in ihrem Hals.
»Callandra?« sagte er sanft.
Sie lächelte, und es war ein albernes, strahlendes Lächeln, und ihr Blick begegnete dem seinen mit einer Intensität, als hätte sie ihn berührt.
Ganz langsam begann auch er zu lächeln. Er streckte eine Hand über den Schreibtisch und legte sie auf die ihre. Falls ihm der Gedanke kam, sie könnte ihn für den Mörder von Prudence Barrymore gehalten haben, so sagte er jedenfalls nichts. Ebensowenig wie er sie fragte, warum sie nicht zur Polizei gegangen war. Sie hätte ihm gesagt, weil sie ihn mit jeder Faser ihres Körpers liebte – eine schmerzliche Liebe, die sie nicht wollte –, aber es war besser für alle Beteiligten, wenn derlei ungesagt blieb. Sie beide wußten und verstanden es. Einige Minuten lang saßen sie sich schweigend gegenüber, die Hände ineinander gelegt, und starrten sich lächelnd an.
Rathbone betrat den Gerichtssaal weißglühend vor Zorn. Lovat-Smith saß mit finsterer Miene an seinem Tisch; er wußte, er hatte verloren. Interesselos hob er den Kopf, als Rathbone vorbeikam, sah dann dessen Gesichtsausdruck und stutzte. Er warf einen Blick hinauf zur Anklagebank. Dort saß Sir Herbert mit dem Hauch eines Lächelns auf den Lippen und strahlte eine ruhige Zuversicht aus; nicht daß er so vulgär oder vermessen gewesen wäre zu jubilieren, aber seine Siegesgewißheit war nicht zu verkennen.
»Mr. Rathbone?« Richter Hardie sah den Anwalt fragend an.
»Sind Sie bereit für Ihr Schlußplädoyer?«
Rathbone zwang sich, so ruhig wie möglich zu klingen.
»Nein, Euer Ehren. Wenn es dem Gericht recht ist, würde ich gern noch zwei weitere Zeugen aufrufen.«
Hardie sah ihn überrascht an; Lovat-Smith machte große Augen. Ein leises Rascheln ging durch die Publikumsreihen. Einige der Geschworenen runzelten die Stirn.
»Wenn Sie es für nötig halten, Mr. Rathbone«, sagte Hardie zweifelnd.
»Ich halte es für nötig, Euer Ehren«, antwortete Rathbone.
»Um meinem Mandanten in jeder Hinsicht Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.« Bei diesen Worten warf er einen Blick hinauf zur Anklagebank und sah, wie Sir Herberts Lächeln fast unmerklich blasser wurde, während sich zwischen seinen Brauen eine kleine Furche bildete. Freilich hielt sie sich nicht. Das Lächeln kam wieder, und er begegnete Rathbones Blick mit Zuversicht und einem Strahlen, von dem nur sie beide wußten, daß es seiner Verachtung entsprang.
Lovat-Smith blickte neugierig von Rathbone hinauf zur Anklagebank und wieder
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