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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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zurück; dann richtete er sich etwas auf.
    »Ich möchte Dr. James Cantrell aufrufen«, sagte Rathbone mit klarer Stimme.
    »Dr. James Cantrell«, wiederholte der Gerichtsdiener laut. Einige Augenblicke später erschien der Genannte; ein schmaler junger Mann, dessen Hals und Kinn dort, wo er sich in seiner Nervosität beim Rasieren geschnitten hatte, Blutflecken zierten. Er war einer der Medizinstudenten, und seine Laufbahn stand auf dem Spiel. Er wurde vereidigt, und Rathbone begann ihn lang und ausführlich zu Sir Herberts untadeliger Haltung als Arzt zu befragen.
    Die Geschworenen waren gelangweilt; Hardie wurde zunehmend ärgerlicher, und Lovat-Smith zeigte ganz unverhohlen Interesse. Das Lächeln auf Sir Herberts Gesicht verschwand nicht einen Augenblick.
    Rathbone kämpfte weiter und kam sich von Minute zu Minute alberner vor, aber er war fest entschlossen, für Monk soviel Zeit wie möglich zu schinden.
    Hester hatte sich mit einer Kollegin arrangiert, die für einige Stunden ihre Pflichten übernahm; sie würde dafür die doppelte Anzahl von Stunden für sie einspringen. Sie traf sich mit Monk um sechs Uhr morgens in dessen Wohnung. Jetzt galt es, keine Minute zu verlieren. Die Sonne stand bereits hoch, und sie wußten nicht, wieviel Zeit Rathbone ihnen verschaffen könnte.
    »Wo sollen wir anfangen?« fragte sie. »Ich habe nachgedacht, und wenn ich ehrlich bin, dann bin ich nicht mehr besonders optimistisch.«
    »Optimistisch war ich von vornherein nicht«, erwiderte Monk. »Ich weiß nur, daß ich diesen Bastard nicht davonkommen lasse.« Er lächelte sie an, und war auch keine Wärme in diesem Lächeln, dazu war er zu wütend, so doch etwas anderes, Tieferes. Es war absolutes Vertrauen, die Gewißheit, daß sie verstand und sein Gefühl ohne Erklärungen teilte. »Er hat weder geworben, noch lief er seiner Kundschaft nach. Irgendwo muß es einen Mann, eine Frau geben, die das für ihn erledigt. Er wird wohl keine Frauen ohne Geld akzeptiert haben, was auf die bessere Gesellschaft weist – alt oder neu…«
    »Vermutlich alt«, unterbrach sie ihn sarkastisch. »Die Geschäftsleute, das heißt die neue Gesellschaft, kommt aus den besseren Kreisen der oberen Arbeiterklasse. Das sind Leute mit gesellschaftlichen Ambitionen wie Runcorn. Deren Moralbegriffe sind für gewöhnlich sehr streng. Es ist das alte Geld, das sich seiner sicher ist und die Konventionen verhöhnt und deshalb auch weit eher Abtreibungen nötig hat – oder man glaubt, mehr als eine bestimmte Anzahl von Kindern nicht verkraften zu können.«
    »Arme Frauen kommen damit ja wohl noch weniger zurecht«, sagte Monk stirnrunzelnd.
    »Selbstverständlich«, pflichtete sie ihm bei. »Aber die können sich wohl kaum Sir Herberts Preise leisten? Die gehen zu den Frauen in den Hinterhöfen oder versuchen es selbst.«
    Ein verärgerter Ausdruck legte sich auf sein Gesicht, freilich wegen seiner eigenen Dummheit. Er stand am Kamin, den Fuß auf dem Gitter davor. »Und wie findet so eine Dame der Gesellschaft einen Abtreiber?« fragte er sie.
    »Durch Mundpropaganda, nehme ich an«, sagte sie nachdenklich. »Aber wen würde sie fragen?«
    Er schwieg und beobachtete sie abwartend.
    Sie fuhr fort, laut nachzudenken: »Jemanden, den ihr Mann nicht kennt – oder ihr Vater, falls sie unverheiratet ist. Möglicherweise auch ihre Mutter nicht. Wo geht sie also hin, allein und ohne Aufmerksamkeit zu erregen?« Sie setzte sich auf den Stuhl mit der hohen Lehne und legte das Kinn in die Hände.
    »Zu ihrer Schneiderin, zu ihrer Putzmacherin«, beantwortete sie ihre eigene Frage. »Sie könnte sich einer Freundin anvertrauen, aber das halte ich für unwahrscheinlich. Es ist etwas, wovon die Bekannten nichts wissen sollen. Es ist ja gerade deren Meinung, vor der sie sich schützen will!«
    »Dann müssen wir es bei diesen Leuten versuchen«, sagte er rasch. »Aber was kann ich dabei tun? Ich werde doch nicht hier herumstehen und auf Sie warten!«
    »Sie versuchen es bei den Putzmacherinnen und Schneiderinnen«, antwortete sie entschlossen und stand auf.
    »Ich versuche es im Krankenhaus. Irgend jemand dort muß etwas wissen. Schließlich wurde ihm assistiert, selbst wenn es jedesmal eine andere Schwester war. Wenn ich Prudence’ Briefe noch einmal nach Daten und Namen durchgehe«, sie strich sich den Rock glatt, »gelingt es mir vielleicht, diese bis zu bestimmten Leuten zurückzuverfolgen. Sie hat doch ihre Initialen notiert. Vielleicht ist eine von ihnen

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