Im Schatten der Gerechtigkeit
sagte das sanft, aber seine Stimme hatte einen müden Unterton, als hätte er das schon oft gesagt, ohne daß es mehr gefruchtet hätte als jetzt.
Ihr Hals versteifte sich, sie schob ihr spitzes Kinn nach vorn.
»Die Leute müssen endlich lernen, die Welt so zu sehen, wie sie ist.« Sie blickte nicht ihn an, sondern eines der Gemälde an der Wand, eine idyllische Szene im Hof einer Stallung. »Es gibt nun einmal Dinge, die man haben darf, und solche, die man nicht haben darf.« Ihr hübscher Mund spannte sich. »Ich fürchte, Prudence hat diesen Unterschied nie begriffen. Das ist die Tragödie.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie hätte so glücklich sein können, wenn sie nur von ihren kindischen Ideen abgelassen und sich damit beschieden hätte, den armen Geoffrey Taunton zu heiraten. Er war so außerordentlich verläßlich, und er hätte sie genommen. Jetzt ist es natürlich zu spät.« Ihre Augen füllten sich ohne Vorwarnung mit Tränen. »Entschuldigen Sie«, sagte sie mit einem damenhaften Schniefen. »Ich kann nicht anders, als mich zu grämen.«
»Etwas anderes wäre unmenschlich«, sagte Monk rasch. »Sie war in jeder Hinsicht eine bemerkenswerte Frau, die vielen Trost gespendet hat, die furchtbar litten. Sie müssen sehr stolz auf sie sein.«
Mr. Barrymore lächelte, war jedoch zu überwältigt von seinen Gefühlen, um etwas zu sagen. Seine Gattin sah Monk mit dem Ausdruck einer gelinden Überraschung an, als hätte sie sein Lob für Prudence verwirrt.
»Sie sprechen von Mr. Taunton in der Vergangenheitsform, Mrs. Barrymore«, fuhr er fort. »Ist er denn nicht mehr am Leben?«
Jetzt sah sie ihn völlig entgeistert an. »Aber nicht doch! Nein, Mr. Monk. Der arme Geoffrey ist quicklebendig. Aber für Prudence, das arme Kind, ist es zu spät. Jetzt wird er zweifelsohne diese Nanette Cuthbertson heiraten. Sie ist ja nun wirklich schon lange genug hinter ihm her!« Einen Augenblick lang veränderte sich ihr Gesicht und nahm einen Ausdruck an, den man fast als Trotz hätte bezeichnen können. »Aber solange Prudence am Leben war, hätte Geoffrey sie nicht einmal angesehen! Er war erst letztes Wochenende wieder hier und hat sich nach Prudence erkundigt: Wie es ihr in London gehe, und wann wir sie wieder zu Hause erwarteten.«
»Er hat sie nie verstanden«, sagte Mr. Barrymore traurig. »Er hat immer geglaubt, es sei alles nur eine Frage der Zeit; irgendwann würde sie alles mit seinen Augen sehen, den Schwesternberuf aufgeben und zurückkommen, um einen Hausstand zu gründen.«
»Und das hätte sie auch«, sagte Mrs. Barrymore hastig. »Nur daß es dann womöglich zu spät gewesen wäre! Für einen Mann, der heiraten und eine Familie gründen will, hat eine Frau ihre Attraktivität rasch verloren!« Aufgebracht erhob sie die Stimme.
»Prudence schien das einfach nicht zu verstehen, obwohl ich es ihr weiß Gott wie oft gesagt habe! Die Zeit wird nicht auf dich warten, habe ich ihr gesagt. Eines Tages wirst du das einsehen.« Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen, und sie wandte sich ab.
Mr. Barrymore war verlegen. Er hatte seiner Frau in diesem Punkt bereits einmal in Monks Gegenwart widersprochen, und mehr schien er dazu nicht zu sagen.
»Wo könnte ich diesen Mr. Taunton wohl finden?« fragte Monk. »Wenn er Miss Barrymore so oft gesehen hat, weiß er ja vielleicht von jemandem, der ihr Sorgen oder Kummer bereitet hat.«
Mrs. Barrymore blickte ihn wieder an; sie fand seine Frage so ungewöhnlich, daß sie ihren Kummer einen Augenblick lang vergaß. »Geoffrey? Geoffrey kennt doch niemanden, der… der einen Mord begeht, Mr. Monk! Er ist ein über die Maßen außergewöhnlicher junger Mann und so respektabel, wie man es sich nur wünschen kann. Sein Vater war Professor für Mathematik.« Sie verlieh dem Wort eine große Bedeutung. »Mr. Barrymore kannte ihn, bevor er vor vier Jahren verstarb. Er hat Geoffrey sehr gut versorgt.« Sie nickte. »Es überrascht mich nur, daß er noch immer nicht geheiratet hat! Für gewöhnlich sind es ja finanzielle Zwänge, die einen jungen Mann von der Ehe abhalten. Prudence wußte ja gar nicht, was für ein Glück sie hatte, daß er bereit war zu warten, bis sie gescheit würde.«
Monk konnte dazu nichts sagen. »Wo wohnt er denn, Madam?« fragte er.
»Geoffrey?« Ihre Brauen hoben sich. »In Little Ealing. Sie gehen die Boston Lane hinab und wenden sich dann nach rechts, dann folgen Sie der Straße etwa eine Meile, und Sie finden linker Hand The Ride. Geoffreys
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