Im Schatten der Gerechtigkeit
Barrymore war um einiges kleiner als ihr Gatte, eine adrette kleine Frau in einem riesigen Rock, die das leicht angegraute blonde Haar unter ein Spitzenhäubchen gezogen hatte. Selbstverständlich trug sie Schwarz, und ihrem hübschen, feinknochigen Gesicht war anzusehen, daß sie erst kürzlich geweint hatte. Aber jetzt war sie gefaßt und begrüßte Monk freundlich. Sie stand nicht auf, hielt ihm aber eine hübsche Hand entgegen, die in einem fingerlosen Spitzenhandschuh steckte.
»Guten Tag, Mr. Monk. Mein Gatte sagt mir, Sie sind ein Freund von Lady Callandra Daviot, eine der Arbeitgeberinnen unserer armen Prudence. Es ist ausgesprochen freundlich von Ihnen, Anteil an unserer Tragödie zu nehmen.«' Monk bewunderte schweigend Barrymores Diplomatie. Er selbst wäre auf keine so elegante Erklärung gekommen.
»Viele Leute sind durch diesen Verlust bewegt, Madam«, sagte er, während er mit den Lippen ihre Fingerspitzen streifte.
Wenn Barrymore ihn schon als Gentleman vorstellte, so wollte er seine Rolle auch spielen, ja, er würde sogar eine ausgesprochene Befriedigung dabei finden. Obwohl Barrymore es zweifelsohne seiner Gattin zuliebe getan hatte, um ihr das Gefühl zu ersparen, daß Leute von geringem Stand in ihrem Leben herumschnüffelten.
»Es ist wirklich schrecklich«, pflichtete sie ihm bei und blinzelte mehrere Male. Schweigend bedeutete sie ihm, sich zu setzen, und er nahm dankend an. Mr. Barrymore blieb neben dem Sessel seiner Frau stehen; seine Haltung schien merkwürdig distanziert und doch beschützend. »Obwohl es uns eigentlich gar nicht so überraschen sollte. Das wäre naiv, nicht wahr?« Sie sah ihn mit verblüffend klaren blauen Augen an.
Monk war verwirrt. Er zögerte, er wollte ihre Bereitschaft zu sprechen nicht durch ein falsches Wort unterlaufen.
»Ein so eigenwilliges Mädchen«, fuhr Mrs. Barrymore fort und zog die Lippen leicht ein. »Charmant und hübsch, aber sehr eigensinnig.« Sie starrte an Monk vorbei zum Fenster hinaus.
»Haben Sie Töchter, Mr. Monk?«
»Nein, Madam.«
»Dann würde Ihnen mein Rat wenig nützen, außer natürlich es stellen sich noch welche ein.« Sie wandte sich ihm wieder zu, den Hauch eines Lächelns um die Lippen. »Glauben Sie mir, ein hübsches Mädchen kann einem ganz schön Sorgen machen.« Ihr Mund straffte sich. »Aber viel schlimmer noch ist ein intelligentes Mädchen. Ein bescheidenes Mädchen, hübsch, aber nicht umwerfend, und mit genügend Verstand, um zu wissen, wie man gefällt, aber keinerlei Ehrgeiz, etwas zu lernen, das ist die beste der Welt.« Sie sah ihn aufmerksam an, um sicherzugehen, daß er auch wirklich verstand. »Man kann ein Kind immer Gehorsamkeit, Häuslichkeit und gute Manieren lehren.«
Mr. Barrymore hüstelte unangenehm berührt und trat von einem Bein auf das andere.
»Oh, ich weiß, was du denkst, Robert«, sagte Mrs. Barrymore, als hätte er etwas gesagt. »Ein Mädchen kann nichts dafür, wenn es gescheit ist. Ich sage ja auch nur, daß sie viel, viel glücklicher gewesen wäre, wenn sie sich damit zufriedengegeben hätte, ihren Verstand auf passende Art einzusetzen: Lesen, Gedichte schreiben, wenn sie unbedingt gewollt hätte, Gespräche mit Freundinnen.« Sie saß noch immer auf der Kante ihres Sessels, die Röcke um sie gebauscht. »Und wenn sie schon anderen Mut machen muß und eine Gabe dafür hat«, fuhr sie in ernstem Ton fort, »so gibt es doch unzählige, wohltätige Einrichtungen. Weiß Gott, ich habe selbst Stunden über Stunden auf derlei verwendet! Ich könnte Ihnen gar nicht aufzählen, in wie vielen Komitees ich mitgearbeitet habe.« Sie zählte sie an ihren kleinen behandschuhten Fingern auf. »Um die Armen zu speisen, um geeignete Unterkünfte für gefallene Mädchen zu finden, die als Hausmädchen nicht mehr in Frage kommen. Und eine ganze Reihe anderer wohltätiger Zwecke.« Die Erbitterung ließ ihre Stimme schärfer werden. »Aber Prudence wollte davon nichts hören! Sie interessierte sich für die Medizin! Sie las alle möglichen Bücher, voll mit Bildern und Dingen, die eine anständige Frau gar nicht wissen sollte!« Sie verzog das Gesicht vor Abscheu und Verlegenheit. »Natürlich habe ich mit ihr vernünftig zu reden versucht, aber sie war ja so was von halsstarrig.«
Mr. Barrymore beugte sich, die Stirn in Falten gelegt, vor.
»Meine Liebe, es hat doch keinen Sinn, einem Menschen seine Art ausreden zu wollen. Es lag einfach nicht in Prudence’ Natur, das Studium aufzugeben.« Er
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