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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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hätte weder ihn noch sich selbst glücklich machen können – nicht in einer Verbindung, die für ihn voll Ungewißheit und Spannungen und für sie nur unfruchtbar und beengend gewesen wäre.
    Aber andererseits, wie hatte er sich damals eingebildet, Hermione Ward zu lieben, die ihn auf Schritt und Tritt enttäuscht und verletzt hatte, um ihn schließlich in bitterster Einsamkeit zurückzulassen. Vielleicht hätte er sie am Ende sogar gehaßt.
    Er trank seinen Tee aus und verabschiedete sich, und nachdem er sich noch einmal bedankt hatte, machte er sich auf den Weg.
    Auf der Rückreise nach London war es heiß, und der Zug war überfüllt. Er war auf einmal sehr müde; er schloß die Augen und lehnte sich in seinem Sitz zurück. Das Rattern und Schwanken des Eisenbahnwaggons war seltsam beruhigend. Er schreckte aus dem Schlaf und sah, daß ihn ein Junge intensiv und neugierig anstarrte. Eine blonde Frau zupfte das Kind an der Jacke und befahl ihm, sich an seine Manieren zu erinnern und nicht so unhöflich zu sein zu dem Herrn. Dann lächelte sie Monk schüchtern an und entschuldigte sich.
    »Es ist ja kein Schaden angerichtet, Madam«, antwortete er ruhig, sah sich jedoch von einer bruchstückhaften, aber lebendigen Erinnerung aufgeschreckt. Es war ein Gefühl, das er seit seinem Unfall viele Male gehabt hatte; während der letzten Monate überkam es ihn immer häufiger. Und jedesmal überlief ihn ein Angstschauer dabei. So vieles von dem, was er über sich erfahren hatte, zeigte ihm nur Szenen ohne Hintergründe, und der Mann, den er dabei entdeckte, gefiel ihm nicht immer.
    Die Erinnerung war scharf und hell und doch weit entfernt. Er war nicht der Mann, der er heute war; er war der Mann von gestern. Das Bild in seinem Kopf war sonnendurchflutet, und bei aller Klarheit hatte er das Gefühl von Feme. Er war jünger, viel jünger, neu in seinem Beruf, mit all dem Eifer und dem Wunsch zu lernen, wie er Neulingen zu eigen ist. Sein unmittelbarer Vorgesetzter war Samuel Runcorn, das war klar. Er wußte es, wie man Dinge in Träumen weiß: Es gibt keinen sichtbaren Beweis, und doch steht die Gewißheit außer Frage. Er hatte Runcorn ebenso deutlich vor sich wie die Frau, die ihm gegenübersaß, als der ratternde Zug an den Häusern vorbei Richtung Stadt raste. Runcorn mit seinem schmalen Gesicht und den tiefliegenden Augen. Er hatte damals ganz gut ausgesehen: knochige Nase, schöne Stirn, breiter Mund. Selbst heute war es lediglich sein Gesichtsausdruck, diese Mischung aus Übellaunigkeit und dem Bedürfnis, sich zu rechtfertigen, der ihm die Züge verdarb.
    Was war in den Jahren dazwischen passiert? Für wieviel davon war Monk verantwortlich gewesen? Das war ein Gedanke, der ihm immer und immer wieder kam. Und trotzdem war er töricht. Monk hatte keinerlei Schuld daran. Was immer Runcorn war, er hatte es sich selbst zu verdanken, es war seine eigene Entscheidung gewesen.
    Warum war diese Erinnerung zurückgekommen? Nur ein Fetzen davon – eine Zugfahrt mit Runcorn. Runcorn war Inspektor gewesen, Monk ein Konstabler unter seinem Befehl.
    Sie erreichten eben die Außenbezirke von Bayswater, es war also nicht mehr weit bis zur Euston Road und nach Hause. Es würde guttun, aus diesem lärmenden und schaukelnden engen Raum hinaus an die frische Luft zu kommen. Nicht daß die Fitzroy Street mit der Boston Lane und dem Wind über den Weizenfeldern zu vergleichen gewesen wäre.
    Er verspürte eine ausgeprägte Enttäuschung: Fragen und Antworten, die nirgendwo hinführten, zu wissen, daß jemand log, aber nicht wer. Sie hatten seit Tagen an ihrem Fall gearbeitet und nichts erfahren, womit sie etwas hätten anfangen können. Nicht die Spur einer Beweiskette, aus der sich langsam eine Geschichte ergeben hätte.
    Nur daß es diesmal der erste Tag war! Prudence Barrymore war erst gestern gestorben. Das Gefühl kam aus der Vergangenheit, hinter was auch immer er und Runcorn vor vielen Jahren hergewesen waren – waren es zehn, fünfzehn? Runcorn war anders gewesen: selbstsicherer, weniger arrogant, das Bedürfnis, seine Autorität herauszukehren noch nicht ganz so ausgeprägt, ebenso wie das Bedürfnis, immer recht zu haben. Irgend etwas war in den Jahren dazwischen passiert, das seinen Glauben zerstört und ihn innerlich verletzt und verkrüppelt hatte.
    Wußte Monk, was es war? Hatte er es vor dem Unfall gewußt? War Runcorns Haß auf ihn eine Folge davon? Eine Folge seiner Verletzlichkeit und der Tatsache, daß Monk diese

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