Im Schatten der Gerechtigkeit
Königlichen Armenspital. Ihr Name war Prudence Barrymore.« Er sah einen schmerzlichen Schatten über Florence Nightingales ruhige Züge huschen, was sie ihm sofort sympathischer machte. »Ich untersuche diesen Mord«, fuhr er fort. »Nicht für die Polizei, sondern auf Wunsch einer ihrer Freundinnen.«
»Ich bin zutiefst betrübt. Bitte, setzen Sie sich, Mr. Monk.« Sie wies auf einen Stuhl, setzte sich ihm gegenüber, legte die Hände in den Schoß und starrte ihn an.
Er gehorchte. »Können Sie mir etwas über ihr Wesen und ihre Fähigkeiten sagen, Madam?« fragte er. »Ich habe bereits gehört, daß sie sich ausschließlich der Medizin gewidmet hat, daß sie einen Mann abgewiesen hat, der ihr seit Jahren den Hof machte, und daß sie mit großer Überzeugung zu ihren Ansichten stand.«
Ein belustigtes Lächeln spielte um Florence Nightingales Mund. »Die sie auch zum Ausdruck gebracht hat«, pflichtete sie ihm bei. »Sie war eine großartige Frau mit einer großen Leidenschaft zu lernen. Nichts konnte sie davon abhalten, die Wahrheit in Erfahrung zu bringen und sich ihr zu stellen.«
»Und sie anderen mitzuteilen?« fragte er.
»Natürlich. Wenn man die Wahrheit kennt, dann bedarf es einer sanfteren und vielleicht auch weiseren Frau als Prudence Barrymore, sie nicht einfach auszusprechen. Sie hatte keinen Sinn für die Kunst der Diplomatie. Kranke sind weder mit Schmeicheleien noch mit Zwang zu heilen.«
Er unterließ es, ihr zu schmeicheln, indem er ihr beipflichtete. Sie war keine Frau, die sich mit Offensichtlichkeiten zufriedengab. »Könnte sich Miss Barrymore dadurch so erbitterte Feindschaften zugezogen haben, daß man sie ermordete?« fragte er. »Ich meine, hätten ihr Reformeifer oder ihre medizinischen Kenntnisse dafür ausgereicht?«
Florence Nightingale saß einige Minuten lang schweigend da, aber Monk wußte sehr wohl, daß sie ihn verstanden hatte und sich die Frage durch den Kopf gehen ließ.
»Das halte ich für unwahrscheinlich, Mr. Monk«, sagte sie schließlich. »Prudence interessierte sich mehr für die Medizin an sich als ihre Reform, wie das bei mir der Fall ist. Mir geht es vor allem darum, einfache Veränderungen zu bewirken, die viele Leben retten würden, ohne viel zu kosten. Wie etwa eine richtige Belüftung der Krankenhäuser.« Sie sah ihn mit strahlenden Augen an, in denen die Leidenschaft loderte. Das Timbre ihrer Stimme hatte sich verändert, sie hatte eine ganz neue Dringlichkeit. »Haben Sie eine Vorstellung davon, Mr. Monk, wie stickig die meisten Stationen sind, wie abgestanden und voller schädlicher Dämpfe die Luft ist. Saubere Luft wird nicht weniger zur Heilung der Menschen beitragen als die Arzneien, die man ihnen gibt.« Sie lehnte sich geringfügig vor.
»Natürlich lassen sich unsere Krankenhäuser nicht mit denen in Skutari vergleichen, aber es sind trotzdem Orte, an denen nicht weniger Leute an Infektionen sterben als an den ursprünglichen Beschwerden! Es gibt so viel zu tun, es könnte so viel Leid und Tod vermieden werden.« Sie sagte das in ruhigem Ton, und dennoch überlief Monk ein Schauer. Ihre Leidenschaftlichkeit ließ ihre Augen von innen heraus leuchten. Monk hätte sie längst nicht mehr als gewöhnlich beschreiben können. Sie verfügte über einen Ingrimm, ein Feuer und zugleich eine Verletzlichkeit, die sie einzigartig machten. Er sah deutlich, was eine ganze Armee dazu gebracht hatte, sie zu lieben, eine ganze Nation dazu, sie zu verehren, und warum sie dennoch im Grunde ihres Wesens einsam geblieben war.
»Ich habe da eine Freundin«, er benutzte das Wort, ohne zu überlegen, »die mit Ihnen auf der Krim gearbeitet hat, Miss Hester Latterly…«
Ihr Gesicht hellte sich sofort auf vor Freude. »Sie kennen Hester? Wie geht es ihr? Sie mußte vorzeitig damals nach Hause zurückkehren, weil ihre Eltern gestorben waren. Haben Sie sie kürzlich gesehen? Ist sie wohlauf?«
»Ich habe sie vor zwei Tagen gesehen«, antwortete er bereitwillig. »Sie ist bei bester Gesundheit. Sie wird sich sehr freuen zu hören, daß Sie sich nach ihr erkundigt haben.« Er verspürte einen gewissen Besitzerstolz. »Sie pflegt im Augenblick überwiegend privat. Ich fürchte, ihre Offenheit hat sie ihre erste Stellung im Krankenhaus gekostet!« Er stellte fest, daß er lächelte, obwohl er ihre Entlassung damals wütend verurteilt hatte. »Sie wußte mehr über die Fiebermedizin als der Arzt und hat entsprechend gehandelt. Was er ihr nicht verzeihen
Weitere Kostenlose Bücher