Im Schatten der Gerechtigkeit
ausgenutzt hatte?
Der Zug fuhr jetzt durch Paddington. Nicht mehr lange, und er war zu Hause. Er sehnte sich danach, endlich aufzustehen.
Er schloß wieder die Augen. Die Hitze im Abteil und das rhythmische Hin und Her, das unablässige Rattern der Räder über den Fugen zwischen den Geleisen hatten eine hypnotische Wirkung auf ihn.
An dem Fall hatte noch ein zweiter Konstabler mitgearbeitet:
ein schmächtiger junger Mann mit dunklem Haar, das ihm senkrecht von der Stirn stand. Die Erinnerung war ebenso lebhaft wie unbequem, aber Monk konnte sich nicht denken warum. Er zerbrach sich den Kopf, aber es wollte nichts herauskommen dabei. War er gestorben? Warum war er so unglücklich bei dem Gedanken an ihn?
Bei Runcorn war das anders; für ihn verspürte er nur Zorn und eine jähe, starke Verachtung. Nicht daß er dumm gewesen wäre. Ganz und gar nicht: seine Fragen waren scharfsichtig, wohlformuliert und zeugten von Urteilsvermögen; die Antworten wog er offensichtlich gewissenhaft ab. Er ließ sich keinen Bären aufbinden. Warum also mußte Monk feststellen, daß er beim Gedanken an ihn unbewußt die Lippen schürzte?
Um was war es in diesem Fall gegangen? Auch daran erinnerte er sich nicht mehr! Aber es war wichtig gewesen, daran hatte er nicht den geringsten Zweifel. Etwas Ernstes. Der Superintendent hatte sie jeden Tag nach ihren Fortschritten gefragt. Die Presse wollte endlich jemanden hängen sehen. Aber wofür?
Hatten sie Erfolg gehabt?
Ruckartig setzte er sich auf. Sie waren in der Euston Road, und es war Zeit auszusteigen. Hastig und unter Entschuldigungen an die Leute, denen er auf die Füße trat, rappelte er sich aus dem Sitz und ging hinaus auf den Bahnsteig. Er mußte aufhören, in der Vergangenheit herumzustöbern und sich endlich überlegen, was er im Mordfall Prudence Barrymore unternehmen wollte. Er hatte Callandra noch nichts zu berichten, aber vielleicht hatte ja sie ihm etwas zu sagen, obwohl es dafür wahrscheinlich noch etwas zu früh war. Es war vermutlich besser, noch ein, zwei Tage zu warten, dann hatte vielleicht auch er ihr etwas zu sagen.
Er ging den Bahnsteig hinauf, drängte sich zwischen den Leuten durch, stieß einen Gepäckträger an und wäre fast über einen Packen Zeitungen gefallen.
Wie war Prudence Barrymore als Krankenschwester gewesen? Er fing besser am Anfang an. Er hatte ihre Eltern kennengelernt, ihren erfolglosen Freier und ihre Rivalin. Er würde noch ihre Vorgesetzten befragen, die freilich möglicherweise Verdächtige waren. Das beste Urteil über die nächste Phase ihrer Laufbahn dürfte von jemandem kommen, der sie auf der Krim gekannt hatte. Jemand anderes als Hester. Er wich zwei Männern und einer Frau aus, die sich mit einer Hutschachtel abmühten.
Was wäre mit Florence Nightingale selbst? Sie wußte doch sicher über ihre Schwestern Bescheid. Aber würde sie Monk empfangen? Sie war eine gefeierte Frau, die ganze Stadt bewunderte sie, nur die Königin selbst war beliebter!
Es war einen Versuch wert.
Er würde es morgen angehen. Mochte sie auch unendlich berühmter und wichtiger sein, sie konnte sich wohl kaum als eigensinniger oder scharfzüngiger entpuppen als Hester!
Ohne es zu merken, beschleunigte er seine Schritte. Es war eine gute Entscheidung. Er lächelte einer älteren Frau zu, die ihn anfunkelte.
Florence Nightingale war kleiner, als er erwartet hatte und von schmächtigem Wuchs, sie hatte braunes Haar und regelmäßige Züge. Auf den ersten Blick war sie völlig unscheinbar. Nur die Intensität ihres Blicks unter den flachen Brauen hielt ihn fest, die Art, wie sie einem geradewegs in den Kopf zu sehen schien; nicht neugierig, nur mit der Aufforderung, ihrer Ehrlichkeit mit gleicher Offenheit zu begegnen. Er konnte sich gut vorstellen, daß ihr keiner die Zeit zu stehlen wagte.
Sie hatte ihn in einem sparsam möblierten, funktional eingerichteten Büro empfangen. Er hatte Schwierigkeiten gehabt, vorgelassen zu werden, bevor er nicht genau erklärte, worum es ihm ging. Es war offensichtlich, daß sie alle Hände voll zu tun und ihre Arbeit nur für die Dauer dieses Gesprächs unterbrochen hatte.
»Guten Tag, Mr. Monk«, sagte sie mit klarer, kräftiger Stimme. »Ich höre, Sie kommen im Zusammenhang mit dem Tod einer meiner Schwestern. Es tut mir wirklich furchtbar leid, das zu hören. Was wünschen Sie denn nun von mir?«
Er hätte nicht gewagt, ihr mit Ausflüchten zu kommen. »Sie wurde ermordet, Madam, während ihrer Arbeit im
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