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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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eine eigenartige Atemnot, und sie hatte fast so etwas wie einen Schwindelanfall, als sie um eine Ecke bog und mit Berenice Ross Gilbert zusammenstieß.
    »Oh! Guten Tag«, sagte sie nach Luft schnappend, als sie, nicht allzu anmutig, ihr Gleichgewicht wiederfand.
    »Guten Tag, Callandra«, sagte Berenice, die eleganten Brauen gehoben. »Sie sehen etwas verwirrt aus, meine Liebe. Ist etwas nicht in Ordnung?«
    »Selbstverständlich ist etwas nicht in Ordnung!« antwortete Callandra gereizt. »Schwester Barrymore ist ermordet worden! Was könnte wohl weniger in Ordnung sein?«
    »Es ist schrecklich, natürlich«, antwortete Berenice und zog ihr Fichu zurecht. »Aber Ihrem Ausdruck nach zu urteilen, dachte ich, es müßte schon wieder etwas passiert sein. Ich bin erleichtert, daß dem nicht so ist.« Sie trug ein sattes Braun mit geklöppelter Spitze. »Der ganze Betrieb hier steht Kopf. Mrs. Flaherty kann die Schwestern einfach nicht beruhigen. Die dummen Frauenzimmer scheinen zu glauben, daß hier ein Wahnsinniger herumläuft und sie alle in Gefahr sind.« Sie hatte eine ziemlich lange Nase, und aus ihrer ironischen Miene sprach tiefe Verachtung, als sie Callandra anstarrte. »Was doch wirklich lächerlich ist! Dieses Verbrechen wurde doch offensichtlich aus persönlichen Gründen verübt – wahrscheinlich irgendein abgewiesener Liebhaber.«
    »Ein abgewiesener Freier vielleicht«, korrigierte Callandra sie. »Aber kein Liebhaber. So eine war Prudence nicht.«
    »Also wirklich, meine Liebe.« Berenice lachte laut auf, ihr Gesicht voll höhnischer Belustigung. »Sie mag ja gesellschaftlich daneben gewesen sein, aber so eine war sie nun ganz sicher! Glauben Sie vielleicht, sie hat all die Zeit mit den Soldaten auf der Krim aus religiöser Berufung für die Krankenpflege zugebracht?«
    »Nein. Ich glaube, sie ist aus einer häuslichen Unzufriedenheit dorthin«, gab Callandra bissig zurück. »Um des Abenteuers einer Reise willen, um andere Leute, andere Länder kennenzulernen, um etwas Nützliches zu tun, vor allem aber um mehr über die Medizin zu lernen, die seit ihrer Kindheit ihre Leidenschaft war.«
    Mit einem kollernden Lachen warf Berenice den Kopf zurück.
    »Was sind Sie doch naiv, meine Liebe! Aber bitte, glauben Sie, was Sie wollen.« Sie trat etwas näher an Callandra heran, als wollte sie ihr etwas anvertrauen, und Callandra roch den schweren Moschusduft ihres Parfüms. »Haben Sie diesen schrecklichen kleinen Polizisten gesehen? Was für ein schmieriger kleiner Wicht! Der reinste Käfer! Ist Ihnen aufgefallen, daß er kaum Brauen hat, und diese schwarzen Augen – die reinsten Steine.« Sie erschauerte. »Ich schwöre Ihnen, sie sehen aus wie die Pflaumenkerne, die ich früher zu zählen pflegte, um meine Zukunft vorherzusagen. Sie wissen schon: Eene, meene, muu, und so weiter. Ich bin mir ziemlich sicher, er hat Dr. Beck in Verdacht.«
    Callandra versuchte etwas zu sagen, mußte aber erst den Kloß in ihrem Hals hinunterschlucken. »Dr. Beck?« Nicht daß sie das so überrascht hätte. Sie brachte nur ihre Angst zum Ausdruck.
    »Aber warum? Warum um alles in der Welt sollte Dr. Beck – sie ermordet haben?«
    Berenice zuckte die Achseln. »Wer weiß? Vielleicht war er hinter ihr her, sie hat ihn abgewiesen, er war außer sich, verlor die Kontrolle und hat sie erwürgt.«
    »Hinter ihr her?« Callandra starrte sie an. In ihrem Kopf brach ein Aufruhr los, und der Schreck, der ihr wie eine heiße Welle durch den Körper fuhr, verursachte ihr Übelkeit.
    »Um Himmels willen, Callandra, hören Sie auf, alles zu wiederholen, was ich sage, als hätten Sie nicht alle Sinne beisammen!« sagte Berenice spitz. »Warum nicht? Er ist ein Mann in den besten Jahren und mit einer Frau verheiratet, der er, günstigenfalls, völlig gleichgültig ist. Und die ihm schlimmstenfalls – wenn ich unfreundlich sein wollte – die ehelichen Pflichten verweigert…«
    Callandra schauderte. Es war unsäglich widerwärtig, Berenice in solchen Worten über Kristian und sein Privatleben sprechen zu hören. Und es schmerzte sie mehr, als sie sich eingestanden hätte.
    Berenice fuhr fort, sich des Entsetzens, das sie auslöste, offensichtlich nicht im geringsten bewußt. »Und Prudence Barrymore war auf ihre Weise durchaus eine ansehnliche Person, das muß man ihr lassen. Nicht, daß man sie hübsch im herkömmlichen Sinne hätte nennen können, dazu fehlte es ihren Zügen an der nötigen Gesetztheit, aber ich kann mir gut vorstellen,

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