Im Schatten der Gerechtigkeit
Fehlgeburten. Ihr Körper war einfach erschöpft.«
»Sie konnte doch schon eine ganze Weile nicht mehr schwanger geworden sein«, sagte der Jüngere der beiden mit einem Blick auf den ausgemergelten Körper. Er sah so blutlos aus, als wäre der Tod schon vor Stunden eingetreten. »Sie muß doch wenigstens fünfzig sein.«
»Siebenunddreißig«, antwortete Sir Herbert mit rauher Stimme, als wäre er wütend. Fast hätte man meinen können, er machte den jungen Mann und seine Unwissenheit für die Situation verantwortlich.
Dieser holte Luft, um zu antworten, überlegte es sich dann jedoch mit einem Blick in Sir Herberts müdes Gesicht anders.
»Na schön, Miss Latterly«, sagte Sir Herbert zu Hester.
»Sagen Sie in der Leichenhalle Bescheid, und lassen Sie sie abholen. Ich werde es ihrem Mann sagen.«
Ohne zu überlegen, sagte Hester: »Wenn Sie wollen, Sir, sage ich es ihm. « Er sah sie näher an, und einen Augenblick wich die Überraschung seiner Müdigkeit. »Das ist sehr nett von Ihnen, aber es ist meine Aufgabe. Ich habe mich daran gewöhnt. Weiß Gott, wie viele Frauen ich im Kindbett habe sterben sehen. Oder nachdem sie bis zur Erschöpfung Kinder zur Welt gebracht hatten, so daß sie das erstbeste Fieber dahinraffte.«
»Warum machen sie so etwas nur?« fragte der junge Arzt.
»Sie müssen doch sehen, wohin das führt? Neun, zehn Kinder müßten wohl jedem genügen!«
»Selbstverständlich weil sie es nicht besser wissen!« fuhr Sir Herbert ihn an. »Die Hälfte weiß noch nicht einmal, wie Kinder zustande kommen oder warum, geschweige denn, was man dagegen tun könnte.« Er griff nach einem Tuch und wischte sich die Hände ab. »Die meisten Frauen kommen in den Ehestand ohne die geringste Ahnung, was er mit sich bringt, und viele von ihnen kapieren den Zusammenhang zwischen ihren ehelichen Beziehungen und den unzähligen Schwangerschaften ihr Leben lang nicht.« Er hielt Hester das blutige Tuch hin, und sie nahm es ihm ab und ersetzte es durch ein frisches. »Man bringt ihnen bei, es sei ihre Pflicht und der Wille Gottes«, fuhr er fort. »Sie glauben an einen Gott, der weder Barmherzigkeit hat noch gesunden Menschenverstand.« Sein Gesicht lief dunkel an, während er sprach, und seine engstehenden Augen wurden vor Zorn ganz hart.
»Sagen Sie ihnen das denn?« fragte der junge Arzt.
»Was wollen Sie denen sagen?« entgegnete der Arzt gepreßt.
»Daß sie ihren Männern eines der wenigen Vergnügen verwehren sollen, die die armen Teufel haben? Und dann was? Sollen sie zusehen, wie sie ihnen weglaufen und sich eine andere suchen?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte der junge Mann gereizt. »Aber daß man ihnen eine Möglichkeit nennt…« Er verstummte, als ihm die Sinnlosigkeit seiner Worte bewußt wurde. Er sprach von Frauen, von denen die meisten weder lesen noch schreiben konnten. Die Kirche verdammte jede Art von Geburtenkontrolle. Es war schließlich Gottes Wille, daß Frauen so viele Kinder bekamen, wie die Natur nur zulassen wollte, und Schmerz, Angst und Tod gehörten nun einmal zu Evas Strafe und hatten mit stiller Stärke ertragen zu werden.
»Stehen Sie nicht so rum, Frau!« fuhr Sir Herbert Hester plötzlich an. »Sehen Sie zu, daß man die sterblichen Überreste dieser armen Kreatur in die Leichenhalle bringt!«
Zwei Tage später stand Hester in Sir Herberts Büro; sie hatte ihm im Auftrag von Mrs. Flaherty einige Papiere gebracht.
Es klopfte an der Tür, und Sir Herbert hieß die Person eintreten. Hester stand im Hintergrund des Raums in einer Nische, und ihr erster Gedanke war, er hätte sie vergessen. Dann, als die beiden jungen Frauen hereinkamen, wurde ihr klar, daß es ihm vielleicht lieber war, wenn sie blieb.
Die erste war schätzungsweise dreißig und blond, ihr Gesicht war sehr blaß, die Backenknochen hoch und merkwürdig schmal; dazu hatte sie ausgesprochen hübsche haselnußbraune Augen. Die zweite war viel jünger, womöglich nicht älter als achtzehn. Obwohl ihre Züge eine gewisse Ähnlichkeit mit der ersten hatten, war sie von dunklerem Teint und die Linie ihrer Brauen über den tiefblauen Augen war klar; ihr Haaransatz bildete zur Stirnmitte hin ein perfektes Dreieck. Außerdem hatte sie einen Schönheitsfleck über dem Wangenknochen. Letzterer äußerst attraktiv. Wie auch immer, sie wirkte müde und blaß.
»Guten Tag, Sir Herbert«, sagte die Ältere der beiden mit vor Nervosität stockender Stimme. Das Kinn jedoch trug sie hoch, ihr Blick war offen und
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