Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
ein Flackern in Kristians Augen.
    »Wenn Sie solches Vertrauen in ihn setzen, dann kann ich ja wohl nicht anders, als ihm ebenfalls zu vertrauen«, antwortete er.
    Sie wollte noch etwas sagen, aber es wollte ihr nichts einfallen, was nicht gezwungen geklungen hätte. Um nicht töricht zu erscheinen, entschuldigte sie sich und machte sich auf die Suche nach Mrs. Flaherty, um mit ihr über einige karitative Angelegenheiten zu sprechen.
    Hester empfand die Rückkehr von der privaten Pflege ins Krankenhaus als schwere Prüfung. Sie hatte sich seit ihrer Entlassung vor etwa einem Jahr daran gewöhnt, ihre eigene Herrin zu sein.
    Die Beschränkungen, die der praktischen Medizin in England auferlegt waren, erwiesen sich nach den Freiheiten auf der Krim als kaum zu ertragen. Im Krieg hatte man sie gebraucht. Armeechirurgen waren dünn gesät, so daß die Schwestern selbst Hand anlegen mußten, und kaum einer hatte Grund zur Klage gehabt. Hier dagegen schien man der Meinung, schikanöse kleine Vorschriften durchsetzen zu müssen, die mehr der Wahrung der Würde dienten, als der Linderung von Schmerzen oder der Rettung von Leben. Der Ruf des Arztes schien wichtiger als neue Entdeckungen.
    Sie hatte Prudence Barrymore gekannt und verspürte neben einem gewaltigen Zorn auch eine sehr persönliche Trauer über ihren Verlust. Sie war entschlossen, Monk bei seinen Ermittlungen nach besten Kräften zu unterstützen. Also hatte sie sich vorgenommen, ihr Temperament zu zügeln, so schwer es ihr auch fallen mochte. Sie wollte davon absehen, den Leuten die Meinung zu sagen, so groß die Versuchung auch war. Und auf keinen Fall wollte sie nach ihrem eigenen medizinischen Urteil handeln.
    Bisher war ihr das gelungen, aber Mrs. Flaherty stellte ihre Geduld auf eine harte Probe. So was von festgefahren wie diese Frau! Selbst an den mildesten Tagen weigerte sie sich, die Fenster zu öffnen. Zweimal hatte sie den Schwestern befohlen, beim Hinaustragen ein Tuch über die Fäkalieneimer zu legen, aber als diese das wieder vergaßen, hatte sie nichts mehr gesagt. Hester, als Jüngerin Florence Nightingales, war eine leidenschaftliche Verfechterin frischer Luft: Sie reinigte die Atmosphäre und beseitigte schädliche Ausdünstungen ebenso wie unangenehme Gerüche. Mrs. Flaherty dagegen hatte eine Heidenangst vor Erkältungen und verließ sich lieber auf das Ausräuchern. Hester hatte wirklich alle Mühe, ihre Ratschläge für sich zu behalten.
    Kristian Beck mochte sie instinktiv. Seine Züge schienen voll Mitgefühl und Vorstellungskraft. Seine Bescheidenheit und sein trockener Humor sprachen sie an, und zudem hatte sie das Gefühl, daß er beruflich ausgesprochen fähig war. Sir Herbert Stanhope mochte sie weniger, mußte aber zugeben, daß er ein hervorragender Chirurg war. Er führte Operationen durch, an die sich geringere gar nicht erst herangewagt hätten, und dann achtete er nicht so sehr auf seinen Ruf, daß er Neues oder Reformen hintangestellt hätte. Sie bewunderte ihn und konnte sich des Gefühls nicht erwehren, ihm eigentlich mehr Sympathien entgegenbringen zu müssen. Aber sie glaubte bei ihm eine Abneigung gegen Krankenschwestern aus dem Krimkrieg festzustellen. Vielleicht erntete sie hier die Saat von Prudence Barrymores aggressivem Ehrgeiz.
    Der erste Todesfall nach ihrer Ankunft war eine schmächtige kleine Frau mit einem Geschwür in der Brust. Sie schätzte sie auf etwa fünfzig, und sie starb trotz Sir Herberts Bemühungen auf dem Operationstisch.
    Es war spät am Abend. Sie hatten den ganzen Tag über gearbeitet und alles menschenmögliche versucht, sie zu retten. Vergeblich. Sie war ihnen noch während ihrer Bemühungen um sie gestorben. Sir Herbert stand da, die blutbefleckten Hände gehoben, hinter ihm die nackten Wände des Operationssaals, links der Tisch mit den Instrumenten, Tupfern und Bandagen, rechts die Zylinder mit den Anästhetika. Eine Schwester stand mit einem Lappen dabei und wischte sich mit einer Hand das Haar aus den Augen.
    Die Galerie war leer, es assistierten nur zwei Studenten. Sir Herbert hob den Blick, sein Gesicht war blaß, die Haut über den Backenknochen straff. »Sie ist tot«, sagte er ausdruckslos. »Das arme Ding. Hatte einfach keine Kraft mehr.«
    »War sie schon lange krank?« fragte einer der beiden Studenten.
    »Lange?« sagte Sir Herbert und stieß ein abruptes Lachen aus.
    »Kommt ganz darauf an, was Sie darunter verstehen. Sie hat vierzehn Kinder gehabt und weiß Gott wie viele

Weitere Kostenlose Bücher