Im Schatten der Gerechtigkeit
Ein zugleich sinnliches und kultiviertes Gesicht, aber sein Knochenbau hatte etwas Fremdes, etwas undefinierbar Ausländisches.
»Ja, Inspektor?« sagte er höflich.
Jeavis war voller Zuversicht, vielleicht weil er an Runcorns Zufriedenheit dachte. »Sie haben mit der verstorbenen Schwester Barrymore zusammengearbeitet, nicht wahr, Doktor.« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Er kannte die Antwort, und er trug sein Wissen wie eine Rüstung.
»Ich nehme an, sie hat mit allen Ärzten im Haus gearbeitet«, antwortete Beck. »Obwohl sie in letzter Zeit, glaube ich, meist Sir Herbert assistierte. Sie war außerordentlich fähig, weit fähiger als der Durchschnitt.« Ein Anflug von Belustigung mit einem Schuß Ärger kräuselte seinen Mund.
»Wollen Sie damit sagen, daß die Verstorbene sich von den anderen Schwestern unterschied, Sir?« hakte Jeavis rasch nach.
»Selbstverständlich!« Beck war überrascht über Jeavis’ Dummheit. »Sie war mit Miss Nightingales Schwestern auf der Krim gewesen! Die meisten anderen sind nur weibliche Angestellte, die lieber hier saubermachen als in einem Privathaushalt. Häufig schon deshalb, weil ein halbwegs guter Haushalt Referenzen über Charakter, Moral, Nüchternheit und Ehrlichkeit verlangen würde, die viele dieser Frauen nicht bekämen. Miss Barrymore war eine Dame, die sich der Krankenpflege zuwandte, um ihrem Land zu dienen. Sie hatte es vermutlich gar nicht nötig, für ihren Unterhalt zu arbeiten.«
Was Jeavis etwas aus der Fassung brachte. »Das mag sein«, sagte er zweifelnd. »Ich habe einen Zeugen, der gehört hat, wie Sie sich einige Tage vor dem Mord an Miss Barrymore mit ihr stritten. Was haben Sie dazu zu sagen, Doktor?«
Beck sah ihn verblüfft an, sein Gesicht straffte sich leicht.
»Ich sage dazu, daß Ihr Zeuge sich irrt, Inspektor«, antwortete er ruhig. »Ich hatte keinen Streit mit Miss Barrymore. Ich hatte großen Respekt vor ihr, sowohl persönlich als auch beruflich.«
»Nun, Sie sagen das jetzt nicht womöglich nur, weil sie ermordet wurde, oder, Sir?«
»Warum fragen Sie mich dann, Inspektor?« Wieder dieses Aufblitzen von Humor auf seinem Gesicht, aber es verschwand wieder und ließ es ernster zurück als zuvor. »Ihr Zeuge ist entweder böswillig, oder er hat etwas zu befürchten. Oder er hat einen Teil einer Unterhaltung mitbekommen und diesen falsch verstanden. Ich habe keine Ahnung, was.«
Jeavis kniff sich zweifelnd in die Lippe. »Nun, das mag durchaus der Fall sein, aber es handelt sich hier um eine Person von ausgezeichnetem Leumund, und ich erwarte wirklich eine bessere Erklärung als diese, Sir, denn nach dem zu urteilen, was der Zeuge gehört hat, sieht es ganz so aus, als hätte Miss Barrymore Sie erpreßt und damit gedroht, zur Hospitalverwaltung zu gehen. Und Sie haben sie angefleht, das nicht zu tun. Hätten Sie die Güte, mir das zu erklären, Sir?«
Beck war blässer geworden. »Das kann ich nicht«, gestand er.
»Es ist kompletter Unsinn.«
Jeavis brummte. »Das glaube ich nicht, Sir. Das glaube ich ganz und gar nicht. Aber lassen wir das fürs erste.« Er sah Beck scharf an. »Lassen Sie sich nur nicht einfallen, plötzlich nach Frankreich zu verreisen, oder wo immer Sie herkommen. Sonst müßte ich Ihnen nachkommen!«
»Ich habe nicht den geringsten Wunsch, nach Frankreich zu reisen, Inspektor«, sagte Beck trocken. »Ich bin hier, das versichere ich Ihnen. Und jetzt, wenn Sie nichts mehr haben, dann muß ich zurück zu meinen Patienten.« Und ohne auf Jeavis’ Zustimmung zu warten, ging er an ihnen vorbei aus dem Raum.
»Verdächtig«, sagte Jeavis finster. »Merken Sie sich, was ich Ihnen sage, Evan, das ist unser Mann.«
»Vielleicht.« Evan war da anderer Meinung, und das nicht weil er etwas gewußt oder einen anderen verdächtigt hätte, sondern aus Trotz. »Und vielleicht auch wieder nicht.«
Callandra wurde sich Jeavis’ Anwesenheit im Krankenhaus in zunehmendem Maße bewußt, und schließlich auch, mit einer entsetzlichen Angst, seines Verdachts gegenüber Kristian Beck. Nicht, daß sie auch nur einen Augenblick an dessen Schuld geglaubt hätte, aber sie hatte die Justiz schon zu viele Fehler machen sehen, um nicht zu wissen, daß Unschuld nicht immer genügte, um einen vor dem Galgen zu retten, geschweige denn vor dem Schaden, den so ein Verdacht anrichtete: der ruinierte Ruf, die Angst, der Verlust von Freunden und Vermögen.
Auf ihrem Weg durch den breiten Krankenhauskorridor überfiel sie
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