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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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ihr?«
    »Wahrscheinlich weil sie Jamaikanerin ist«, antwortete Hester und nippte an ihrem Tee. »Wir sind sehr beschränkt, wenn es darum geht, wen wir verehren.« Sie dachte an die starre gesellschaftliche Hierarchie – selbst unter den Damen, die auf einer Anhöhe mit Blick auf ein Schlachtfeld picknickten oder am Morgen zuvor – und danach – mit ihren schönen Pferden in der Parade mitritten; an Teekränzchen inmitten eines Blutbads. Dann fand sie ruckartig in die Gegenwart zurück. »Ja, ich kannte Prudence. Sie war eine tapfere und selbstlose Frau damals.«
    »Damals!« Das Mädchen war entsetzt. »Was soll das heißen? Sie war wunderbar! Sie wußte so viel! Viel mehr als mancher Arzt! Ich dachte mir, oh!« Sie hielt sich die Hand vor den Mund.
    »Sagen Sie bitte niemandem, daß ich das gesagt habe! Natürlich war sie nur eine Schwester…«
    »Aber sie wußte sehr viel?« Hester kam ein neuer, häßlicher Gedanke und verdarb ihr die Freude an ihrem Sandwich.
    »O ja!« sagte das Mädchen heftig. »Ich nehme an, das kam von ihrer großen Erfahrung. Nicht daß sie viel darüber gesprochen hätte. Ich habe mir immer gewünscht, sie würde mehr sagen… Es war so wundervoll, ihr zuzuhören.« Sie lächelte etwas schüchtern. »Ich nehme an, Sie hätten ähnliches zu erzählen, wo Sie doch auch dabeigewesen sind?«
    »Das hätte ich wohl«, gab Hester zu. »Aber manchmal ist es schwer, die richtigen Worte zu finden. Wie wollen Sie Geruch und Geschmack dieser Erfahrung beschreiben, die unsägliche Müdigkeit, das Entsetzen, den Zorn oder das Mitleid? Ich wünschte, ich könnte Sie für einen Augenblick durch meine Augen schauen lassen, aber ich kann es nicht. Und wenn man etwas nicht richtig machen kann, ist es zuweilen besser, es nicht herabzuwürdigen, indem man es schlecht macht.«
    »Das kann ich verstehen.« Plötzlich hatte sie ein neues Leuchten in den Augen, und ein zartes Lächeln deutete an, daß sie hinter etwas sah, was sie sich lange Zeit nicht hatte erklären können.
    Hester atmete tief durch, trank ihren Tee aus und stellte ihr dann die Fragen, die sie bestürmten. »Glauben Sie, Prudence wußte genug, um zu erkennen, daß jemand einen Fehler gemacht hat – einen schwerwiegenden?«
    »Oh…« Das Mädchen machte eine nachdenkliche Miene, während sie sich die Möglichkeit durch den Kopf gehen ließ. Dann, als ihr klar wurde, was Hester meinte, erschauerte sie entsetzt. Ihre Hand fuhr nach oben, ihre dunklen Augen wurden ganz groß. »O nein! Du lieber Himmel! Sie meinen, ob sie gesehen hat, wie jemand einen richtig schrecklichen Fehler gemacht hat, und daß der sie dann umgebracht hat, um sie zum Schweigen zu bringen? Aber wer würde so etwas Gottloses tun?«
    »Jemand, der um seinen Ruf fürchten müßte«, antwortete Hester. »Wenn der Fehler tödliche Folgen hatte…«
    »Oh – ich verstehe.« Das Mädchen starrte sie immer noch völlig entgeistert an.
    »Mit wem hat sie in jüngster Zeit gearbeitet?« fuhr Hester hartnäckig fort. Sie war sich darüber im klaren, daß sie sich hier auf ein gefährliches Gebiet wagte, gefährlich für sie selbst, falls dieses unschuldige, fast schon einfältig wirkende junge Ding ihre Unterhaltung weitererzählte, aber ihre Neugier war stärker als ihr Selbsterhaltungstrieb. Die Gefahr war nur eine Möglichkeit, eine weit entfernte obendrein. Die Information dagegen war zum Greifen nah. »Wer hat sich um jemanden gekümmert, der unerwartet verstarb?«
    Der Blick des Mädchens hing an Hesters Gesicht. »Bis kurz vor ihrem Tod hat sie sehr eng mit Sir Herbert zusammengearbeitet. Aber auch mit Dr. Beck.« Unglücklich senkte sie die Stimme. »Und Dr. Becks Patient ist in dieser Nacht gestorben – und zwar unerwartet. Wir hatten alle gedacht, er würde wieder gesund werden. Und Prudence und er haben sich gestritten… Jeder weiß das, aber ich denke, wenn er so was gemacht hätte, dann hätte sie das gesagt. Sie war sehr aufrichtig. Sie hätte nichts verschwiegen – für nichts und niemanden! Nicht sie!«
    »Wenn es also das gewesen wäre, dann dürfte das doch am Tag davor passiert sein oder gar noch in jener Nacht?«
    »Ja.«
    »Aber gestorben ist Dr. Becks Patient in jener Nacht«, sagte Hester.
    »Ja«, gab das Mädchen zu. Wieder leuchteten ihre Augen auf, ihre Stimme hob sich.
    »Mit wem hat sie denn in dieser Nacht gearbeitet?« fragte Hester. »Wer war denn überhaupt im Haus?«
    Das Mädchen zögerte einige Augenblicke und dachte nach, um sich auch

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