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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Lesen. Ständig die Geräusche der anderen Frauen, die Unterbrechungen, die rastlosen Bewegungen, die Unterhaltungen, zuweilen sogar Gelächter; dann das ständige Kommen und Gehen. Sie wusch sich an einem der beiden großen Becken und aß während der wenigen Gelegenheiten, die sich zwischen den langen Zwölf-Stunden-Schichten boten.
    Nicht, daß sie an harte Arbeitsbedingungen nicht gewöhnt gewesen wäre. Gott wußte, die Krim war bei weitem schlimmer gewesen. Sie hatte schon mehr gefroren, war hungriger gewesen, müder und zudem in Todesgefahr. Aber damals schien sich das nicht vermeiden zu lassen; es herrschte Krieg. Und dann war da noch die Kameradschaft angesichts eines gemeinsamen Feindes gewesen. Das hier war völlig willkürlich, und es ärgerte sie. Allein der Gedanke an Prudence Barrymore ließ es sie ertragen.
    »Gut.« Sir Herbert lächelte sie an. So wie sich sein Gesicht dadurch aufhellte, sah er plötzlich ganz anders aus. Obwohl es nur ein unverbindliches Lächeln war, sah sie die weichere, menschlichere Seite hinter dem Arzt. »Wir haben einige Schwestern, die ihren eigenen Haushalt führen, aber es ist kein befriedigendes Arrangement, vor allem nicht, wenn sie sich um einen Patienten zu kümmern haben, der ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit bedarf. Ich bitte Sie, sich Punkt zwei Uhr zur Verfügung zu halten. Ich wünsche noch einen guten Tag, Miss Latterly.«
    »Ich danke Ihnen, Sir Herbert.« Worauf sie sich auf der Stelle zurückzog.
    Die Operation erwies sich als ausgesprochen interessant. Für über zwei Stunden vergaß sie alles: ihre Abneigung gegen die Krankenhausdisziplin und die Nachlässigkeit, mit der hier gepflegt wurde, den Schlafsaal und die beängstigende Anwesenheit Dora Parsons, sie vergaß sogar Prudence Barrymore und den eigentlichen Grund ihrer Anwesenheit hier. Ziel der Operation war es, einen überaus stattlichen Herrn Ende Fünfzig von seinem Steinleiden zu befreien. Sein Gesicht bekam sie kaum zu sehen, aber sein blasser, von der Völlerei aufgeschwemmter Unterleib und die Fettschichten, durch die Sir Herbert schnitt, um die Organe freizulegen, waren überaus faszinierend. Die Befreiung von den Zwängen des Augenblicks und dem quälenden Bewußtsein um die schier unerträglichen Schmerzen des Mannes, versetzten sie in einen nahezu euphorischen Zustand.
    Mit an Ehrfurcht grenzender Bewunderung beobachtete sie die spitzen Finger an Sir Herberts schlanken Händen. Feingliedrige, kräftige Hände, die sich flink, aber ohne Hast bewegten. Weder seine intensive Konzentration noch seine unendliche Geduld schienen auch nur einen Augenblick nachzulassen. Seine Geschicklichkeit war von einer Schönheit, die sie alles andere vergessen ließ. Sie bemerkte noch nicht einmal die gespannten Gesichter der zusehenden Studenten, ein schwarzhaariger junger Mann, der fast neben ihr stand, sog immer wieder hörbar die Luft ein, ein Geräusch, das sie normalerweise stark irritiert hätte. Heute nahm sie es kaum wahr.
    Als Sir Herbert schließlich fertig war, trat er zurück, und sein Gesicht verstrahlte das Bewußtsein, ausgezeichnete Arbeit geleistet zu haben: seine Kunstfertigkeit hatte die Ursache des Schmerzes beseitigt, die Wunde würde bei sorgfältiger Pflege und mit etwas Glück heilen, und die Gesundheit des Mannes war wiederhergestellt.
    »Sehen Sie, meine Herren«, sagte er mit einem Lächeln, »noch vor zehn Jahren hätten wir eine so langwierige Operation nicht durchführen können. Wir leben in einer Zeit der Wunder. Die Wissenschaft bewegt sich mit Riesenschritten voran, und wir marschieren vorneweg. Neue Horizonte winken, neue Techniken, neue Entdeckungen. Nun denn, Schwester Latterly, mehr kann ich für ihn nicht tun. Es ist nun an Ihnen, die Wunde zu verbinden, das Fieber in Grenzen zu halten und dafür zu sorgen, daß er keinem Zug ausgesetzt wird. Ich werde morgen wieder nach ihm sehen.«
    »Jawohl, Sir Herbert.« Und dieses Mal war ihre Bewunderung ehrlich genug, um sie das mit aufrichtiger Demut sagen zu lassen.
    Der Patient kam langsam wieder zu Bewußtsein, und das mit erheblichen Problemen. Er hatte nicht nur große Schmerzen, er litt auch an Übelkeit und erbrach sich; zudem machte sie sich Sorgen, er könnte die frische Naht auf seinem Unterleib aufreißen. Sie war vollauf damit beschäftigt, für Linderung zu sorgen und immer wieder nachzusehen, ob er nicht blutete. Sie hatte keine Möglichkeit festzustellen, ob er an inneren Blutungen litt; alles, was sie tun konnte,

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